Fragmente 1.0 – Anne


Vorwort des Authors

Aus der Idee eine Kurzgeschichte zu schreiben, welche hier in diesem Posting zu lesen ist, entstand unverhofft ein Roman mit 35 Kapiteln, die jeweils sofort nach ihrer Entstehung hier gepostet wurden. Die Geschichte entwickelte sich fortwährend, auch dank den Kommentaren und Ideen der Leser:innen von stoepsorama.ch

Für die Inspirationen möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. 

Es ist mein Erstlingswerk und die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches!

Eine eBook Version der Geschichte ist geplant. Aber hierfür muss das gesamte Manuskript überarbeitet und lektoriert werden, was einigen Aufwand mit sich bringt. Wenn es soweit ist, werdet Ihr es in diesem Blog erfahren! :)

Ich wünsche dem Leser viel Spass auf der Reise durch Zeit und Raum und freue mich auf Kommentare und Feedbacks!

Stoeps

Ein knirschendes Knacken unterbrach die virtuose Choreographie von Annes Fingerspitzen auf der Tastatur ihres Computers, als sie gerade dabei war, ihr 53. Bewerbungsschreiben zu tippen. Ein Fingernagel hatte sich augenblicklich entschieden, sein irdisches Dasein zu beenden und sich mit einem lauten, unangenehmen Geräusch zu verabschieden. Anne hielt inne und betrachtete das Malheur. Hatte sich denn nun alles gegen sie verschworen? Die Nägel hatte sie sich erst letzte Woche von ihrer Freundin machen lassen, was nicht gerade billig war. Kunstvoll lackiert und mit Glitter Pigmenten und kleinen Steinchen verziert, sahen sie wirklich sehr gepflegt und edel aus.

Ihr Blick schweifte ab, glitt über ihren mit Blättern, Arbeitszeugnissen, Zeitungsinseraten und Rechnungen übersäten Schreibtisch, blieb einen Moment am Bild von Nick hängen. Eine Mischung aus Wut und Traurigkeit überkam sie. Erst drei Wochen ist es her. Da hatte er sie wegen einer jüngeren Frau verlassen. Sie besuchte ihre Mutter im Ausland und war nur eine Woche von zu Hause weg. Als sie zurück kam, war die Wohnung fast leer. Er war einfach ausgezogen. Wenigstens gehörten ihr die meisten Möbel. Aber von ihm und seinen sieben Sachen keine Spur mehr.

Sie nahm den Bilderrahmen in ihre Hände und streichelte zärtlich mit dem Finger über das spiegelglatte Glas, welches das Foto aus ihrem gemeinsamen Urlaub auf den Malediven beschützte. Sehnsucht packte sie und eine Welle von Gefühlen überrollte ihren Körper. Es begann mit einem Klumpen im Magen, der immer wärmer wurde, gefolgt von einem Kribbeln bis in die Fingerspitzen und einem Schauer, der erst warm und dann immer kälter werdend über ihren Nacken und Rücken rann.

Anne fühlte, wie sie plötzlich immer tiefer in ein Loch aus Einsamkeit, Verlorenheit und Selbstmitleid versank. Und es war ihr egal. Sie war doch auch wirklich so unglaublich bedauernswert. Das alles hatte sie doch nicht verdient! Warum nur, meinte es das Leben nur so schlecht mit ihr? Warum nur traf es genau sie?

Ihr Blick löste sich von dem Bild und wanderte zum Fenster. Es stand offen und eine Gardine tanzte in einem Luftzug. Anne sank immer tiefer, wurde ruhiger und eine Träne rollte ihr über das Gesicht. Der Stoff am Fenster schien sich in Zeitlupe zu bewegen und Anne hatte plötzlich das Gefühl, dass er beseelt zu sein schien. Das tanzende Gardinenstück veränderte plötzlich seine Beschaffenheit. Es war nicht mehr so durchscheinend, die Bewegungen wurden koordinierter und geschmeidiger und Anne erkannte, dass es sich in einen Flügel verwandelt hatte.

Kühle, frische Luft wehte Anne durch das Haar und trocknete ihre Tränen. Die Traurigkeit wich plötzlich einer Neugierde und sie liess ihren Gedanken freien Lauf. Was alles hatte sie in den letzten Jahren nicht verwirklicht, nur weil Nick nicht bereit war, auf ihre Bedürfnisse einzugehen? Die Reise nach Indien, der Reiki-Kurs, die Frauenabende. Früher malte sie Bilder mit Acrylfarben und konnte stundenlang in kreativem Schaffen bei sich selbst sein. All das war neben Nick nicht möglich. Sie hatte es gerne für die Beziehung geopfert. Gerne? Gott, dieser Scheisskerl, wusste doch, dass sie dafür eine Gegenleistung erwartet hatte. Wieso hat er nicht dafür gesorgt, dass sie diese auch erhielt?

Annes Traurigkeit wich langsam einer wachsenden Wut, die in ihr hochstieg! Der Flügel am Fenster verwandelte sich in einen Adler und sie schwang sich auf seinen Rücken, unter dem Arm das Bild von Nick. Sie liess ihr Arbeitszimmer und die Bewerbungen hinter sich und flog in den blauen Himmel. Freiheit! Ist das nicht viel wertvoller als Opfer für einen Menschen zu bringen, der ihre Bedürfnisse nicht respektierte, ja noch nicht einmal wahrnahm? Sie flog über einen Park, über Wiesen und schliesslich entdeckte sie unter sich einen Steinbruch. Mit aller Wucht schleuderte sie Nicks Bild in die Tiefe. Das Klirren des Glases und Splittern der Scherben konnte sie nicht einmal mehr hören. Es war nicht mehr wichtig. Wichtig war jetzt nur noch ihre neue Freiheit. Sie flog immer weiter, der Adler trug sie zum Horizont in fremde Länder und ferne Welten von denen sie bis jetzt nur geträumt hatte. Ein Gefühl von Freude, Licht und Stärke breitete sich von Ihrem Herzen in ihrem ganzen Körper aus.

Anne öffnete die Augen. Sie lag in ihrem Bett. Neben sich spürte sie den warmen Abdruck in der Matratze der von Nicks Körper herrührte. Sie hörte ihn im Badezimmer sich die Zähne putzen. Als er zurück ins Schlafzimmer kam, sie emotionslos ansah und sich anzog um wieder einmal ohne Gruss aus dem Haus zu gehen, fing sie seinen Blick ein und schaute ihm tief in die Augen.  Er ging und sie wusste, es war das letzte mal, dass sie neben ihm eingeschlafen war. Anders als sonst, löste dieser Gedanken keine Angst und Traurigkeit mehr bei ihr aus. Sie fühlte sich stark und glücklich!

Als es still geworden war in der Wohnung stand sie auf, ging ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Ihre Augen leuchteten und sie lachte sich selbst verschwörerisch zu: „Heute“ dachte sie, „fängt mein Leben neu an!“ Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und als sie den abgebrochenen Fingernagel bemerkte, füllte sich ihr Herz mit einer strahlenden Wärme und es war ihr zumute, als könnte sie die ganze Welt umarmen.

Sie nahm ein Stück Papier und begann zu schreiben: Lieber Nick…

Weiter mit Fragmente 1.1 – Aufbruch

11 Gedanken zu “Fragmente 1.0 – Anne

  1. Lieber Stoeps, das passt ja hervorragend zu meinem letzten Post: Die Sache mit der Entscheidung. Und den Namen hast du ganz vortrefflich gewählt. Anne kommt von Anna, ist hebräisch und bedeutet Liebreiz und Anmut. Anne hat für mich mit der Entscheidung für ihre Freiheit an Schönheit gewonnen. Eine schöne Geschichte, auch wenn ich keine künstlichen Fingernägel mag. :D

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  2. Teenudel

    WOW……….ich bin begeistert………. von der Idee/Geschichte, der Wortwahl, vom Stil. Und ich bin sprachlos. Einfach nur FANTASTISCH. You made my day!:-)

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  3. ich bin ja sonst eigentlich nicht so der fan von kurzgeschichten in blogs und hab bisher auch nur wenige gelesen.
    aber diese hier hat mich schon nach dem ersten absatz neugierig gemacht und ich bin echt gespannt darauf, mehr davon zu lesen.
    dein erzählstil gefällt mir echt gut! :D

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  4. @FrauLehmann: Ja stimmt! :-D Das passt wirklich wunderbar zu Die
    Sache mit der Entscheidung
    Tja Synchronizitäten…wen wunderts! ;-)

    @Teenudel: Wow – und Du bescherst mir damit einen Satz rote Ohren! :-) *dankbarverneig*

    @dan: Dank Dir, lieber Dan! Nur das alleine reicht ja noch nicht. Da brauchts noch die Inspiration und vor allem die Disziplin… ;-)

    @Köbi: Danke! Hie, Verstande! *wink*

    @oasenhoheit: Auch Dir herzlichen Dank, liebe Hoheit! Ich werd mir Mühe geben, dass Du auch bei zukünftigen Geschichten über den ersten Absatz hinaus kommst beim lesen ;-)

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  5. *g* glaub mir, es lohnt sich!
    denn oft wars bisher WIRKLICH bei solchen kurzgeschichten so, dass ich nach dem ersten absatz entschieden hab, mir den rest zu schenken. :P
    lag unter anderem manchmal auch an endloslangen texten ohne absätze. sowas les ich auch nicht gern.

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  6. Teenudel

    Ich mag Männer, die sich dankbar vor mir verneigen ;-) und noch dazu rote Ohren bekommen. Scherz beiseite…… deine Geschichte ist wirklich TOLL. Schreibst du weiter an der Geschichte?

    LG und ein wunderschönes Weekend wünscht die Teenudel.

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  7. sehr schöner wandel in der geschichte zumal ich erst schreiben wollte, sie soll das scheiss bild endlich weg werfen! aber jetzt wissen wir, wofür träume manchmal gut sind. so ähnlich ging es mir, irgendwann bin ich aufgewacht und wußte, mit diesem mann erreichst und erlebst du in deinem leben nichts! gefällt mir und ich freue mich auf die fortsetzung! :-)

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  8. Zuerst dachte ich ja schreiben zu müssen, dass frisch lackierte Nägel nicht einfach so brechen, zumal sie ja manukiert worden waren. Aber dann nahm mich Deine Geschichte so gefangen, dass das alles vergessen machte. Ich bin beeindruckt. Und ich will mehr.

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  9. @oasenhoheit: Da gehts mir genau so. Lange Texte, die schlecht gegliedert sind, lese ich auch nicht gerne. Ich werde das beim weiterschreiben berücksichtigen!

    @Teenudel: Eigentlich wollte ich mehr so zusammenhangslose Fragmente schreiben. Deshalb auch der Titel. Aber…Deine Frage hat mich dazu bewogen, das Fragment noch weiter zu spinnen!

    @little-wombat: Das Land der Träume ist nicht nur faszinierend und oft auch skurril und spannend, es ist eben doch auch ein Teil von uns selbst! Oft genug habe ich durch Träume einen Impuls erhalten, der mein Leben veränderte! Danke für das Kompliment und die Fortsetzung ist ja bereits online.

    @CTC: Du wirst mir sicher verzeihen, dass ich mich mit manikürten Fingernägeln von Frauen nicht allzu gut auskenne ;-) Und voilà Du bekommst mehr:

    Weiter gehts hier!

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