Fragmente 1.8 – Die Warnung


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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Vor dem Fenster von Sandras Wohnung stand ein junger Mann. Seine Kleider waren blutgetränkt und seine Augen blickten glasig in eine imaginäre Ferne. Regungslos stand er da, während das Blut aus seinen Kleidern tropfte und kleine, rote Pfützen auf dem Boden bildete. Um seine aufgescheuerten Handgelenke waren Stücke einer Wäscheleine geschlungen und in seiner rechten Hand hielt er einen Fetzen Papier. Anne war vor Schreck gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, konnte sie den Blick nicht abwenden und ihr Gehirn weigerte sich zu verstehen, was ihre Augen sahen.

Nach einem Moment erkannte Anne, wer da vor ihrem Fenster stand. Das viele Blut, die gebückte Haltung und die leblosen Augen hatten das anfänglich verhindert. Annes Verstand versuchte vergeblich eine Erklärung für diese Situation zu finden, denn sie konnte nicht glauben, was sie da sah und doch formten ihre Lippen fast lautlos seinen Namen: „N-I-C-K“ hauchte Anne und konnte noch immer nicht akzeptieren, was sich hier vor ihren Augen abspielte. Ihre Starre löste sich „NICK!“ rief sie nun laut und rannte zur Haustür. Als sie draussen im Garten stand, war von Nick nichts mehr zu sehen. Nur die Blutspuren am Boden zeugten von der unheimlichen Begegnung. Als Anne näher ging, sah sie die blutigen Buchstaben an der Hauswand und was sie las, kam ihr unangenehm bekannt vor:

Anne lauf weg!

Ein eiskalter Schauer überzog Annes Rücken und die Angst kroch wie ein stinkender, sich ausbreitender Schimmelpilzbelag in ihrem Körper hoch bis unter die Kopfhaut. Sie konnte fühlen, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten und gerade als sie sich umdrehen und zurück ins Haus rennen wollte, fiel ihr etwas helles neben den Blutflecken am Boden auf. Sie bückte sich und erkannte, dass es ein Papierschnipsel war, den sie aufhob. Die Ränder sahen aus, als ob jemand das Papier mit den Zähnen abgerissen hätte. Sogar ein Zahnabdruck eines Eckzahns meinte Anne ausmachen zu können. Anne drehte das Papier um und nun packte sie die Panik. Auf der Rückseite stand in ihrer eigenen Handschrift

Lieber Nick

Der Rest des Textes war abgerissen. Auf einmal hatte Anne eine Vermutung. Nick hatte scheinbar ihren Abschiedsbrief heruntergeschluckt, damit er seinen Mördern nicht in die Hände kam. Zum ersten Mal fragte sich Anne, ob es ein Fehler war Nick zu verlassen. Bis zu seinem Tod hatte er sie beschützt. Und sie war einfach gegangen.

Plötzlich hörte Anne ein Geräusch hinter sich. Vor sich am Boden sah sie einen grossen Schatten von irgendetwas, das sich hinter ihr aufbäumte. Langsam drehte sich Anne um. „Aquila!“ Tränen flossen über ihre Wangen und im Augenblick eines Wimpernschlages fiel die ganze Angst und Anspannung von ihr ab. Sie lief auf ihren gefiederten Freund zu und vergrub ihr Gesicht in seinen glänzenden Brustfedern. Jetzt war ihr alles klar! Sie musste noch immer auf der Couch im Wohnzimmer liegen und Nicks Begegnung war Teil eines Traumes. Sie löste sich von Aquila und blickte zu ihm hoch. Ein zärtliches Lächeln verdrängte ihre angstvolle Mine und sie blinzelte in die Sonne, die hinter Aquila am Himmel stand. Er blickte sie an und in ihrem Kopf hörte sie die Auforderung aufzusteigen. Das wollte sich Anne nicht zweimal sagen lassen. Schnell kletterte sie auf den Rücken ihres gefiederten Freundes, der sofort abhob und mit ihr in den blauen Himmel tauchte.

Der Wind trocknete Annes Tränen und in ihren Gedanken bedankte sie sich bei Nick, der sich im Nachhinein doch ihrer Liebe würdig erwies. Aber auch Zweifel beschlichen Anne. Denn gleichzeitig hatte Nick auch erneut eine Warnung hinterlassen. Sollte sie einfach nach Peru fliegen? Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie Raoul finden konnte und wie sie ihm überhaupt helfen konnte. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Aquila wieder seinen stolzen Ruf erklingen liess. Abermals sah Anne von oben die Ebenen von Nazca mit den riesigen Felszeichnungen. Aquila flog immer tiefer und die Szenerie veränderte sich. Die flachen Felszeichnungen wurden plötzlich dreidimensional und aus den dünnen Linien wurden hohe, stabile Wände. Aquila steuerte eines dieser Zeichen an und flog tiefer um zwischen den hohen Mauern dieser Figur einzutauchen.

Aquila erwies sich als wahrer Flugkünstler und flog immer wieder scharfe Kurven, änderte plötzlich seine Richtung und flog sie so immer tiefer in ein steinernes Labyrinth. Nach ein paar Minuten bremste der Adler seinen Flug und landete. Als Anne abstieg, kam sie sich vor wie eine kleine Ameise, die in einer übergrossen Welt gefangen war. Rings um sie herum ragten hohe, glatte, steinerne Flächen dem Himmel entgegen. Es war unheimlich still und Anne traute sich kaum zu atmen. Als sie sich umblickte, sah sie plötzlich jemanden auf sich zukommen. Ihr Herz begann zu leuchten und ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht aus. „Raoul!“ rief sie und lief ihm entgegen. Doch einmal mehr sollte sie ihn nicht erreichen. Noch bevor sie Raoul in ihre Arme schliessen konnte, verblasste die Szenerie um sie herum und versank in einer stillen Dunkelheit. Anne schien in eine endlose Tiefe zu fallen um nach einem undefinierbar langen Moment auf der Couch zu landen, auf der sie in Sandras Haus eingeschlafen war.

Langsam kam sie zu sich und richtete sich auf. Anne streckte sich, rieb sich ihre Augen und versuchte zu verarbeiten, was sie eben geträumt hatte. Das Klingeln der Haustür weckte sie endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster auf ein gelbes Auto liess sie erkennen, dass es der Postbote sein musste. Sie stand auf und öffnete die Tür. Tatsächlich stand eine junge, freundliche Dame in Postgelb gekleidet vor der Tür und händigte ihr einen eingeschriebenen Brief aus, der an sie adressiert war. Neugierig kehrte sie mit dem Briefumschlag zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Die Briefmarke war fremdartig und auch der Poststempel schien auf einen Brief von weit her zu deuten.

Anne riss das Couvert auf und mit einem zärtlichen Lächeln betrachtete sie den Inhalt des Umschlages.

Weiter mit Fragmente 1.9 – Das Rätsel

6 Gedanken zu “Fragmente 1.8 – Die Warnung

  1. heiligs blechle, noch spannender geht glaub ich echt nicht……..

    hut ab, stoeps, die story ist bisher der hammer! und jetzt mein obligatorisches:

    WEITER!!! WEITER!!!! ;-)

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  2. @little-wombat: doch, doch, ich glaub schon, dass das noch etwas spannender geht! ;-) Weiter gehts übrigens mit Fragmente 1.9 – Das Rätsel und schon bald erscheint Fragmente 1.10 – Der Stein der Wahrheit. Und ich darf schon mal vorweg nehmen, die Spannung wird unerträglich werden. Mach Dich also auf etwas gefasst! ;-)

    @Erdge Schoss: Das r, werter Herr Schoss, schenke ich ihnen selbstverständlich! Gestern schrieb ich zum ersten Mal zwei Folgen am Stück Folge 1.9 und Folge 1.10. Sonst entstehen die Texte ja immer ganz brandaktuell. Nun kann ich fast nicht warten, Fragmente 1.10 zu veröffentlichen, dabei bin ich doch so gespannt, ob jemand den Code in Folge 1.9 zu knacken vermag.

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  3. Hallo Stoeps,

    ich bin mal wieder tief beeindruckt von deinen Schreibkünsten. Deine Geschichten erzeugen lebendige Bilder. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass deine Geschichte verfilmt auf ARTE viele Zuschauer anlocken würde.

    Der Vogel Aquila erinnert mich immer an Fuchur aus der Unendlichen Geschichte. Und deine Vorstellung von der Ameise in einer übergroßen Welt sieht ein wenig nach Alice im Wunderland aus.

    Die Stelle: „Zum ersten Mal fragte sich Anne, ob es ein Fehler war Nick zu verlassen. Bis zu seinem Tod hatte er sie beschützt. Und sie war einfach gegangen.“ hat mich viel nachdenken lassen. Ich bin der Meinung, dass man in das Leben eines anderen nicht eingreifen darf. Zwar kann man seine Meinung sagen, aber man darf keine Taten vollziehen, so dass sich das Leben eines anderen verändert. Man kann niemanden beschützen, so sehr man das auch manchmal möchte. Oder wie siehst du das?

    Liebste Grüße,

    FrauLehmann

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  4. Vielen Dank, Frau Lehmann. Aquila als Bruder von Fuchur :-) Vielleicht hätte es Michael Ende gefallen. Vielleicht auch nicht :-)

    Ich habe das gar nicht so gesehen, dass hier Nick in Annes Leben eingegriffen hätte. Er wollte nicht beschützen sondern nur schützen in dem er nicht preisgeben wollte, wo sie zu finden ist. Eigentlich glaube ich, dass wir gar nicht leben können, ohne nicht auch in die Leben anderer einzugreiffen. Nicht bewusst und zielgerichtet. Aber unsere Leben berühren einander und können sich gegenseitig beeinflussen. Deshalb sollte man respektvoll und verantwortungsbewusst durchs leben gehen :)

    Herzliche Grüsse
    Stoeps

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