Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fragmente 1.3 – Raoul

Tausend Bilder zogen an Anne vorbei, als sie auf dem Rücken des Adlers Richtung Südwesten flog. Unter sich sah sie grosse Gebiete mit bunten Feldern, die mit Strassen durchzogen waren. Ab und zu erschienen graue Strukturen von Städten die aussahen wie Krebsgeschwüre in der grün-gold-blauen Haut der Erde. Die Küste Portugals kam in Sichtweite und ganz in der Ferne konnte Sie sogar die Meerenge von Gibraltar erkennen. Als sie das Festland hinter sich liessen und über das offene Meer flogen, veränderte sich die Szenerie langsam.

Anne sah schwebende Inseln, auf denen Sie Menschen, Bauwerke und ganze Städte ausmachen konnte. Auf einigen Inseln waren, wie in einem Museum verschiedene Szenen mit Menschen dargestellt. Die meisten dieser Bilder zogen an ihr vorbei, ohne dass sie Einzelheiten oder gar den Sinn des Dargestellten erkennen konnte. Andere Sequenzen aber schienen sich zu ganzen Panoramen zu verbreitern und ermöglichten es ihr sogar Details zu erkennen. Eine dieser schwebenden Inselwelten faszinierte Anne besonders. Sie schien eine antike ägyptische Stadt zu beherbergen. Anne wies den Adler in Gedanken an, diese Stadt anzufliegen und als sie näher kamen, verlangsamte ihr fliegender Freund sein Tempo, damit Anne mehr erkennen konnte.

Annes Vater war Historiker und beschäftigte sich vorwiegend mit Papyriologie und Epigraphik alter Völker. So hatte sie in ihrer Kindheit sehr vieles über antike Kulturen erfahren und sich auch immer sehr dafür interessiert. Dies half ihr einzuordnen, was sie sah. Die Stadt, die sie nun anflog, besass eine vorgelagerte Insel, auf der sie einen grossen Turm ausmachen konnte. Anne war sich sicher, dass es sich um das antike Alexandrien handeln musste und sie wollte unbedingt mehr davon sehen. „Aquila“ rief sie ihrem Traumadler in Gedanken zu „lande hier!“ Bis jetzt hatte sie nicht darüber nachgedacht, ob ihr Adler einen Namen besass. Aber genau jetzt, in diesem Moment wusste sie, dass er Aquila hiess. Sie hatte jetzt keine Zeit länger darüber nachzudenken und sie beschloss, diesen Namen einfach als intuitiven Gedanken anzunehmen. Anne begann immer mehr zu begreifen, dass Intuition in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen würde.

Aquila und Anne landeten in der Nähe der Küste, im nordöstlichen Teil der Stadt. Schnell war Anne klar, dass sie sich hier in einem noblen Viertel befand, denn die Häuser und Strassen waren erstaunlich schön und massiv gebaut. Niedrige Gebäude wechselten sich mit freien Plätzen, Gärten und Palmenalleen ab. Die Sonne leuchtete hell und alles schien in goldenem Licht zu baden. Anne lief staunend eine dieser Prachtstrassen entlang und stand schliesslich vor einem grossen Gebäudekomplex. Dessen Architektur und Schönheit übertraf alles, was sich Anne damals in ihren kühnsten Kinderträumen vorgestellt hatte. Die Stirnseite bildete eine Art nach oben konisch zulaufendes „H“ dessen Stützpfeiler je ca. 40% der Vorderseite einnahmen. Im schmalen Teil dazwischen ruhte ein grosses Tor. Anne suchte in ihren Erinnerungen nach Ideen, um was für ein Gebäude es sich handeln konnte.

Eine bekannte Stimme hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken: „Was tust Du hier mein Kind?“ Sie schaute sich erschrocken um und erblickte zu ihrem grossen Erstaunen ihren eigenen Vater, der in für diese Zeit üblicher Bekleidung vor ihr stand und sie milde anlächelte. „Paps? Was tust Du denn hier?“ Der freudige Ausdruck im Gesicht ihres Vaters wich langsam einer besorgten Mine und er hob eine Hand um Anne eine Strähne ihres dunklen, langen Haares aus der Stirn zu streichen. „Ich rette, was zu retten ist!“ Sagte er. Ihr fielen ein paar Papyrus Rollen unter seinem linken Arm auf und wollte weitere Fragen stellen, doch ihr Vater fuhr weiter: „Bald wird die Bibliothek von Alexandrien zerstört werden und wir bringen alles in Sicherheit. An einen Ort, den niemals jemand finden sollte! Keine Macht der Welt soll je über all das gesammelte Wissen der antiken Zeit verfügen. Erst wenn das Wissen allen Menschen zur Verfügung gestellt werden kann, ohne den Einfluss von machthungrigen Staatsmännern und Regierungen, werden wir das Wissen mit der gesamten Menschheit teilen!“ Anne erkannte auf einer der Papyrusrollen ein Symbol, dass ihr schon als Kind aufgefallen war. Es waren zwei ausgebreitete Arme die sie als kleine Tätowierung zwischen den Schulterblättern von ihrem Vater gesehen hatte.

Anne versuchte herauszufinden, was hier eigentlich los war und hatte schon eine Frage an ihren Vater auf ihren Lippen als plötzlich, mit einem quietschenden Geräusch, ein Auto um die Ecke bog. Männer feuerten aus geöffneten Fenstern mit Maschinenpistolen auf sie. Anne und ihr Vater flohen durch das Tor in das grosse Gebäude. „Du musst gehen! Sprich mit mir, wenn Du von Deiner Reise zurückgekehrt bist!“ In Anne’s Kopf wirbelten die Gedanken wie Blätter in einem herbstlichen Sturm. Was hatte das alles zu bedeuten? Ihr Vater im alten Ägypten als Retter von antiken Büchern? Autos und Maschinengewehrfeuer? Vor fast 2000 Jahren? Anne rannte zu Aquila zurück an den Hafen und stieg, völlig ausser Atem, auf dessen Rücken. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob er sich mit Anne in die Luft und die Szene unter ihnen wurde kleiner und kleiner. Die schwebende Insel mit der antiken Stadt Alexandria verschwand langsam im Dunst der Ferne während Annes Gedanken durch ihren Kopf tobten.

Langsam wurde Ihr bewusst, dass sie sich in einem Traum befand. Dies fühlte sich seltsam an für sie, denn alles schien ihr so intensiv und real. Und in ihr wuchs die Überzeugung, dass ihr in dieser Traumreise etwas mitgeteilt werden sollte, dass für ihr weiteres Leben eine wichtige Bedeutung haben sollte. Aquila trug Anne immer weiter und sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ihr gefiederter Freund plötzlich einen schrillen Schrei ausstiess. Anne blickte nach unten und sofort wusste sie, wo sie sich befanden. Unter ihnen erstreckte sich eine weite Ebene, auf der sie riesige Symbole erkannte. „Wir sind in Peru! Das sind die Ebenen von Nazca!“ rief Anne laut aus.

Unten auf der Ebene stand jemand. Die Person war noch zu weit entfernt als dass Anne sie hätte erkennen können. Doch schnell kamen sie näher und ein Lächeln ergriff Besitz von Annes Gesicht. Raoul stand dort unten und winkte ihr schon von weitem zu. Er erwiderte ihr Lächeln und Annes Herz beschleunigte seinen Rhythmus während sie vom Rücken von Aquila stieg um Raoul entgegen zu eilen. Sie sah auch ihn auf sich zulaufen und in seiner linken Hand erkannte sie eine der Papyrusrollen, die sie schon bei Ihrem Vater gesehen hatte. Es kam ihr merkwürdig vor, doch im Moment wollte sie nichts anderes, als Raoul endlich wieder in seine wunderschönen Augen zu blicken. Doch mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging, schien er sich weiter zu entfernen und die Szene wurde immer blasser.

Anne wurde schwindlig und plötzlich umfing sie eine bilderlose Dunkelheit. Sie fiel in ein schwarzes Loch, das kein Ende zu nehmen schien. Aus weiter Entfernung hörte sie eine Stimme an ihr Ohr dringen „Anne!“. Sie wehrte sich gegen das Aufwachen, wollte zurück auf die Nazca-Ebene zu Raoul. „Anne, wach auf, schnell!“. Ihr Kopf pochte, ihr ganzer Körper war angespannt und sie fühlte sich, als hätte sie einen handfesten Kater. Wieder vernahm sie die quälende Stimme: „Anne! Bitte wach endlich auf!“ Sie atmete tief ein und lies die Luft langsam aus ihrem Körper entweichen. Dann schlug sie die Augen auf und erkannte das Gesicht von Sandra vor sich.

Sandra sah besorgt aus. In ihrer rechten Hand hielt sie ein schnurloses Telefon. „Anne, dein Vater hat gerade angerufen. Du sollst Dich unbedingt sofort bei Ihm melden! Es muss etwas passiert sein, denn er klang sehr besorgt und aufgeregt!“

Weiter mit Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.3 – Raoul

Fotocredit: Jessie Reeder

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Annes Lippen kräuselten sich, als sie ihren Atem mit einem leisen Geräusch entweichen liess. „OK – ich rufe ihn zurück!“ Sandra blickte sie gespannt an „Jetzt gleich?“ wollte sie wissen. Aber Anne wiegelte ab. Sie wollte sich erst klar werden, ob sich ihre Entscheidung gut anfühlte und was Ihr Herz, nachdem es sich langsam wieder beruhigt hatte, dazu sagen würde. „Diese Sache mit Raoul damals war echt hart für mich“ begann Anne Sandra zu erklären. Noch nie hatte sie sich so Hals über Kopf in einen Mann verliebt. Noch dazu in einen, der ungreifbar erschien. Lebte er doch damals in Peru. Und er musste noch immer dort leben, denn die Nummer war die gleiche wie damals, sonst hätte ihr Handy ja den Anrufer nicht erkannt. „Ich weiss nicht was mit mir geschieht, wenn ich seine Stimme wieder höre“ sinnierte Anne weiter und Sandra hing an ihren Lippen. „Was, wenn meine Gefühle auf einmal wieder da sind? Ich brauchte damals so lange, bis ich Raoul wieder vergessen konnte.“

Sandra verdrehte die Augen „Aber es wird doch einen Grund geben, warum er dich nach so langer Zeit versucht hat anzurufen?“ Annes Gedanken begannen zu kreisen. „Vielleicht hat er dich niemals vergessen können“ doppelte Sandra nach. „Und warum ruft er genau jetzt an, einen Tag nach dem ich meine Beziehung mit Nick beendet habe? Glaubst Du an Zufälle?“ Anne blickte ihre Freundin fragend an. „Oder glaubst Du an Schicksal?“. Sandra legte sich ihre Antwort im Kopf zurecht und antwortete geheimnisvoll „Nichts von beidem existiert wirklich!“ Anne dachte nach. Was konnte Sandra damit meinen? „Es ist nicht so einfach zu erklären, was ich glaube“ fuhr Sandra weiter. „Das Schicksal ist nicht festgeschrieben, aber es geschieht auch nichts zufällig in unserem Leben. Alles hat seinen tieferen Sinn!“

Plötzlich wurde Anne hektisch „Ich rufe ihn an! Gleich jetzt!“. Sie tippte auf die Rückruftaste ihres Handys und hielt es an ihr Ohr. Ein Zittern ergriff ihren ganzen Körper und irgendwie fühlte sie sich plötzlich so durchsichtig, irgendwie flüchtig und es war ihr, als könnte sie Raouls Gesicht ganz nahe bei Ihrem fühlen. Sie fieberte dem Moment entgegen in dem sie Raouls Stimme hören würde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und als sie endlich ein Knacken in der Leitung vernahm, blieb ihr Herz für eine Zehntelssekunde lang stehen. Sie hörte ein heftiges Atmen, als ob jemand um sein Leben rannte. „Moment bitte! Warte, leg nicht auf!“ Raouls Stimme klang gehetzt. Anne hörte schnelle Schritte, weit entfernt bellten mehrere Hunde und plötzlich zeriss ein Knall die unheimliche Szene. „Scheisse – diese Idioten meinen es ernst“ stiess Raoul hervor. Anne erschauderte. Ihre anfängliche Nervosität war nun blanker Angst gewichen. „Raoul, um Gottes Willen, was ist los bei Dir?“ Anne fror. „Warte, bitte warte und bleib dran!“ hörte sie Raoul jetzt schreien. „Ich bin gleich in Sicherheit!“ Dann vernahm sie durch das Telefon wie sich die Szenerie am anderen Ende der Verbindung veränderte. Stimmen von vielen Menschen drangen an Ihr Ohr. Das Atmen von Raoul wurde ruhiger. „Ich habe sie abgehängt! Ich sitze jetzt in einem Café. Hier wird mich niemand verfolgen!“
Anne atmete schnell, ihre Gefühle fuhren Achterbahn und am liebsten hätte sie Raoul tausend Fragen gestellt. Was er denn jetzt so mache, wie es ihm gehe, warum er sich jetzt gemeldet habe und überhaupt wollte sie ihm irgendwann alles über ihre Gefühle von damals erzählen. Jetzt aber brachte sie nicht viel über ihre Lippen: „Raoul, was ist los bei Dir? Du machst mir eine Höllenangst!“

Dem Klang seiner Stimme konnte sie anhören, dass er jetzt lächelte und sie kannte dies Lächeln, dass einem die Sonne ins Herz scheinen liess. „Ich bin da in etwas hineingeraten, das ich selbst noch nicht richtig verstehe!“ sie hörte wie er nun in spanisch ein Bier bestellte, dann wendete er sich wieder an sie „Bei einer Grabung sind wir auf eine Höhle gestossen, die uns zu einem Raum führte, der unzählige antike Schriftstücke enthielt. Ich glaube, es handelt sich dabei um eine Art Bibliothek. Das Verrückte dabei ist, dass die ersten Funde die wir begutachteten, aus den verschiedensten Regionen der Erde stammten. Sogar eine Schriftrolle in aramäischer Sprache war dabei. Alles ist sehr rätselhaft“ Anne versuchte das Gehörte irgendwie einzuordnen. Sie wusste das Raoul Archäologie und ein paar Semester Theologie studiert hatte und sie sah ihn vor sich, wie er in diesen geheimnisvollen Raum eindrang und als erster Mensch seit unzähligen Generationen die Luft dort drin einatmete. „Vor ein paar Tagen verschwand urplötzlich der Grabungsleiter und zwei Hilfsarbeiter. Und seit gestern, werde ich verfolgt. Ich habe keine Ahnung wer hinter mir her ist und warum. Aber ich habe eine Scheissangst!“ Anne hörte zu, langsam konnte sie sich wieder etwas beruhigen. „Und warum hast Du  ausgerechnet mich angerufen?“ fragte sie nun, sich selbst Luft mit einer Serviette zufächelnd. „Weil ich seit Tagen jede Nacht von Dir träume, Anne!“ Anne schluckte hörbar „Ich habe dich in all den Jahren nicht vergessen können!“ hörte sie Raoul leise sagen.

Eine Träne rann über ihre Wange, blieb an ihrer Oberlippe hängen um sich dann zu lösen und mit einem leisen Blubb in ihren Kaffee zu fallen. „Seit ich mich damals am Flughafen von dir verabschiedet habe, hatte sich Dein Gesicht in mein Gedächtnis gebrannt. Ich hätte damals nicht einfach gehen dürfen. Aber ich wusste, dass Du nicht frei bist und ich machte mir Vorwürfe wegen des Abschiedskusses und weil ich fühlte, wie sehr ich Dich damit in Bedrängnis brachte.“ In Annes Kopf drehte alles. Wären da oben irgendwelche losen Gegenstände, sie würden jetzt mit voller Wucht gegen ihre Schädeldecke gedrückt. „Raoul“ Anne versuchte zu sprechen, „ich weiss nicht, was ich sagen soll! Ich weiss nur, dass ich mich seit Deinem Anruf komplett ausserhalb der Normalität befinde.“ Sehnsucht packte ihr Herz und auf einmal fühlte sie nur noch dieses brennende Verlangen Raoul zu umarmen, seine Haut zu riechen, seinen Puls zu fühlen, sein Gesicht in ihre Hände zu nehmen und ihn zärtlich, innig und dann leidenschaftlich zu küssen.

Sie fühlte sich wie ein einziges Vakuum, dass nur noch von dem Wunsch beseelt war, all die verpassten Jahre aufzuholen. „Ich würde Dich so gerne sehen!“ Raouls Stimme wurde weich und er sagte: „Das kannst Du bald! Ich werde übermorgen nach Europa fliegen um Professor Carlitos in Bern zu treffen.“ Annes Herz begann augenblicklich wieder einen schnelleren Rhythmus anzuschlagen. „Anne, bist Du noch dran?“ „Ja, Raoul!“ Anne wurde heiss und kalt zugleich. „Ich möchte Dich sehen, unbedingt!“ Ihre beiden Stimmen sagten diesen Satz synchron, als ob sie ihn schon hunderte Male gemeinsam geübt hätten. „Ich muss jetzt auflegen! Ich melde mich bald bei Dir!“ Anne wollte nicht, dass er das Gespräch schon beendete, es gab noch so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte! „Ich kann es kaum erwarten, Dich wieder in meine Arme zu nehmen!“ Raouls Stimme enthielt dabei soviel Wärme dass Anne kaum ein Wort mehr darauf erwidern konnte. „Ich freue mich auch!“ sagte sie.

Das Flirren der Luft, das Knistern und all diese blühenden Gedanken nahmen ein abruptes Ende als Raoul plötzlich hastig in sein Telefon sprach „Ich muss Schluss machen, Anne. Sie kommen! Ich muss hier weg!“ „Raoul! …Raoul…?“ aber ein Klicken in der Leitung unterbrach das Gespräch.

Anne sank in ihren Stuhl zurück und ihre Augen wanderten zu Sandra, die das ganze Gespräch mitverfolgt hatte. Annes Freundin sah sehr besorgt aus. Sie streckte Ihre Arme aus um Anne zu umarmen. Anne legte ihren Kopf an Sandras Schulter und fühlte sich für den Augenblick geborgen.

Tausend Fragen tanzten durch ihren Kopf und vor Sorge würde sie diese Nacht kein Auge schliessen können, dessen war sie sich sicher. Doch es kam anders. Die Aufregung des Tages forderte ihren Tribut und als Anne an diesem Abend in das Bett stieg, dass in Sandras Gästezimmer stand, schlief sie sofort ein!

Aber es war ein unruhiger Schlaf und bald schon sass Anne wieder auf dem Rücken des Adlers, der mit ihr über den Atlantik flog.

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Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fotocredit: Office by Night von y entonces

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Anne vergass das Stück Torte in ihrem Mund, blickte verunsichert blinzelnd auf Ihr Mobiltelefon und versuchte zu überprüfen, ob die Buchstaben auf ihrem Handydisplay tatsächlich den Namen bildeten, den sie meinte gelesen zu haben. Konnte es möglich sein? Aber da stand es klar und deutlich: Raoul Ramirez Handy Privat

Sandra beobachtete verblüfft, wie Annes Augen plötzlich in undefinierbare Weiten blickten. Wer Augenmuster lesen konnte – und Sandra wusste um deren Bedeutung – erkannte unschwer, dass Anne Bilder und Eindrücke aus der Vergangenheit abrief. Im Bruchteil von Sekunden wurde Sandras Freundin überflutet von Gedankenfetzen und Eindrücken aus einer Region ihres Gehirnes, die seit Äonen von Augenblicken nicht mehr aktiv gewesen zu sein schien und nun förmlich explodierte. Bewegte Collagen aus verdrängten Bildern, Gesprächsfetzen, Gefühlen, Gerüchen und vielfältigen Sinneseindrücken brachen über sie herein.

Die Nacht im Büro der Importabteilung ihres damaligen Arbeitgebers. Stahlblaue, wunderschöne Augen. Schwarzes, kurz geschnittenes, lockiges Haar. Braungebrannte Haut. Ein Duftcoctail aus würzig-herbem Schweiss, Whiskey, süssen, kubanischen Cigarren vermischt mit schwindelerregenden Pheromonen tanzten in ihrer Nase. Sie hörte den sonoren, tiefen, warmen Klang von Raouls männlicher Stimme. Sie erhaschte einen Erinnerungsfetzen. Eine Situation in der er ihr eine Liste mit Gegenständen, die er importieren sollte, vorlas. Sie sah sich, wie sie völlig entrückt seine Lippen beobachtete, in seinen Augen ertrank und ihr Körper vor Verlangen in vibrierende Schwingungen versetzt wurde. „Hast Du alles?“ fragte die männliche, hypnotisierende Stimme. Sie sah sich nicken, obwohl ihr Verstand kein einziges Wort registiert hatte. „Anne“ eine Frauenstimme drang in ihren Tagtraum. „Anne!“. Sich von diesen Bildern zu trennen schmerzte sie fast. „Anne, willst Du nicht ran gehen?“

Sandra riss sie aus dem Sog der Erinnerungen zurück in die Realität. „Ich….ich….kann nicht!“ Anne war unfähig zu reagieren. Ein süsses Gift kroch durch ihre Venen und suchte sich seinen Weg zu ihrem Herzen. „Soll ich..?“ Sandra griff nach Anne’s Handy „Nein!“ Anne zog ihre Hand zurück, drückte sie mit ihrem Mobiltelefon darin an ihr Herz, das heftig klopfte. Der Klingelton verstummte. Nur noch der Hinweis auf den unbeantworteten Anruf blinkte auf dem Display.

Plötzlich erhellte ein glockengleiches, helles Lachen den Raum „Du hättest Dich sehen sollen, Anne!“ Sandra wischte sich eine Träne der Rührung von ihrer Wange. Anne blickte um sich. Sie musste sich erst einen Überblick verschaffen um sich wieder im Hier und Jetzt einzufinden. Sie hielt den Atem einen kurzen Moment lang an und mit einem befreienden Seufzer entliess sie die Luft aus ihren bebenden Lungen.

„Wer zum Teufel war das?“ frage Sandra sichtlich von unstillbarer Neugierde gepackt. „Das ist eine lange Geschichte“ begann Anne. „Vor einigen Jahren, ich war erst seit 18 Monaten mit Nick zusammen, bekam ich in der Firma einen Importauftrag zugeteilt. Ich sollte die Einfuhr von wertvollen, antiken Funden aus Südamerika abwickeln, die für ein hiesiges Museum bestimmt waren. Dabei lernte ich Raoul kennen, der für die Einfuhr der Gegenstände verantwortlich war. Gemeinsam mit Ihm sollte ich sämtliche Papiere erstellen und ihn bei der Verzollung und dem ganzen Behördenkram unterstützen.“

Sie erzählte Sandra die ganze Geschichte. Wie sie damals am Flughafen Mister Ramirez abholen sollte und einen älteren, eher langweiligen Herrn erwartet hatte. Anne war das, was man eine treue Seele nannte. Nie hätte sie sich vorstellen können dass sie sich, während sie in einer Beziehung war, in einen anderen Mann hätte verlieben können. Aber als sie damals Raoul zum ersten Mal sah, geschah das Unvorstellbare. Sie erzählte Sandra von den Nächten im Büro, als sie mit Raoul Listen durchging, auf Bestätigungen aus Peru wartetend mit ihm über Gott und die Welt sprach. Sie erinnerte sich an Details wie die feinen, schwarzen Haare an Raouls Armen, deren gegensätzlicher Verlauf an der Aussenseite seiner Unterarme eine schmale Linie bildete und wie sie fast den Verstand verlor bei dem Versuch, ihren Drang zu unterdrücken, diese Arme zu berühren. Wie sich ihre Augen immer wieder trafen und sich gegenseitig Blitze zusandten. Sie war damals überzeugt, dass auch er diese Gefühle teilte. Aber sie beide sprachen nicht aus, was ihre Herzen schrien. Sie erzählte Sandra, wie sie bittere Tränen vergoss, als Raoul wieder zurück flog und von dem heissen, leidenschaftlichen, unerwarteten Abschiedskuss, der Anne in tiefe Verzeiflung stürzte. Von den süssen, erotischen Träumen, die sie noch Wochen lang verfolgten und dem langsamen, schmerzhaften Verdrängungsprozess.

Sandra hörte gebannt zu. Vor ihrem inneren Auge konnte sie, wie beim Lesen eines guten Buches, Bilder entstehen sehen und ihr war, als könne sie Anne’s Erinnerungen berühren, Raouls Stimme hören und seinen Duft atmen. „Und? Was wirst Du tun? Rufst Du ihn zurück?“ Anne überlegte lange. Sehr lange. Doch dann fällte sie eine Entscheidung. Sie holte tief Luft: …

Weiter mit Fragmente 1.3 – Raoul