Fragmente 1.35 – Einmal bis zur Ewigkeit und zurück

Foto-Credit: Peter Kent @ Flickr

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In der rechten Wand löste sich eine grosse Platte der Mauer und fiel nach hinten um einen niedrigen Durchgang freizugeben. Das musste der Eingang zur Bibliothek sein. Der Klang im Raum verhallte langsam und Anne, Raoul, Carlos und Luis trauten sich kaum mehr zu atmen. „Los Anne, Du zuerst!“ flüsterte Raoul und Anne liess sich nicht zweimal bitten. Sie kroch in den niedrigen Tunnel, der in einen riesige Höhle führte. Diese war in etwa so hoch, wie der Schacht des Schlüsselraumes. Aber der Raum war so gross, dass das Licht der Taschenlampen nicht ausreichte um das andere Ende auszuleuchten. Auch Raoul, Carlos und Luis kamen nun durch den Gang gekrochen und das Bild, das sich ihnen bot, verschlug ihnen die Sprache.

In den Wänden befanden sich Nische an Nische. Vom Boden bis zu Decke. Es mussten tausende solcher Nischen sein und In der Mitte des Raumes war ein riesiger, glattpolierter Felsquader, der wohl als Tisch und Arbeitsfläche gedient hatte. Luis schritt auf eine der Wände zu und wollte in eine der Nischen greifen um eine Schriftrolle, die sehr alt aussah, daraus heraus zunehmen und zu betrachten. Doch Raoul hielt ihn davon ab. „Nicht! Diese Schriftrollen und Bücher sind teilweise tausende von Jahren alt. Du würdest sie mit einer Berührung vielleicht zerstören!“ Luis Hand zuckte zurück.

So standen sie in der Mitte dieses Raumes, voller Respekt und Ehrfurcht über all das gesammelte Wissen der Menschheit der Antike, das hier in diesem Raum zusammengetragen wurde. Bis vor wenigen Jahrzenten, so hatte Annes Vater erzählt, wurden hier von den eingeweihten Nachfahren der Lambayeque Schriftstücke eingelagert. Danach hatte die Digitalisierung des Wissens und seiner Verbreitung über das Internet das weitere Archivieren und Sammeln unnötig gemacht.

„Eines Tages, wenn wir alle dazu bereit sind, werden wir dieses Archiv der Menschheit zurück ans Licht holen, konservieren, digitalisieren und der gesamten Bevölkerung frei zur Verfügung stellen. Aber es ist noch nicht so weit. Die Menschen werden noch ein paar Generationen und Jahrhunderte Entwicklung brauchen, bis sie bereit sind, ihr Erbe respektvoll und zum Vorteil aller zu nutzen. Zu gross ist heute die Gefahr, dass der Zugang nur den Mächtigen der Welt gewährt würde und sie dadurch nur ihre Macht stärken würden. Dazu darf es nicht kommen“ sagte Anne und in ihrer Stimme schwang eine grosse Demut vor all dem Wissen, dass es hier zu schützen galt.

„Also, was tun wir nun?“ fragte Luis. „Wir gehen zurück und verschliessen den Eingang so,  dass er für lange Zeit gesichert ist!“ antwortete Raoul. „Los kommt!“ rief Anne und machte sich auf den Weg. Als sie wieder aus der Öffnung in den Schlüsselraum kletterten, traf sie fast der Schlag. Der Monsignore war weg. Und mit ihm das Artefakt, dass sie für den Verschluss der Bibliothek gebrauchten hätten. Doch gerade als Anne Raoul darauf aufmerksam machen wollte, stürzte sich das Monster aus dem dunklen Eingang mit dem Schlüsselstein in den erhobenen Händen auf Anne, um sie mit Steinplatte zu erschlagen. Doch Anne reagierte erstaunlich flink, dafür dass sie verletzt war und ihre Wunde wieder stärker blutete. Sie wich einen Schritt zur Seite, packte den linken Arm des Monsignore und stiess ihn genau in die Richtung der Einbuchtung in der Wand, in die der Schlüsselstein passte. Der Geistliche stolperte zwei Schritte vorwärts und als ob er nichts gewollt hätte, klappte der Stein in die dafür vorgesehene Öffnung. Einen Moment lang standen alle wie angewurzelt da und warteten darauf, was nun passieren würde, während der Monsignore versuchte seinen Sturz aufzufangen. Aber er verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Gesicht frontal in die Wand. Das Bersten seines Nasenbeins war genauso laut und deutlich hörbar, wie das Klicken des Mechanismus, der durch das Einsetzen des Schlüsselsteins ausgelöst worden war.

„Schnell, rennt in den Gang, wir müssen hier raus!“ rief Anne und spurtete los. Die Anderen folgten ihr mit Ausnahme ihres Widersachers, der wie angewurzelt an der Wand stehen blieb. Der Durchgang zur Bibliothek schloss sich wieder und mit einem lauten Geräusch barsten nun plötzlich Steinplatten im oberen Bereich der Seitenwände und stürzten in den Raum. Eines dieser Wandteile traf den Monsignore und riss ihn zu Boden. Anne und ihr Begleiter waren schon einige Meter zurück in den Gang geeilt und blieben kurz stehen, um zurück zu blicken. Sie sahen, wie nun plötzlich Sand von oben in den Raum drang und sich dieser langsam von unten zu füllen begann. Als Anne nur noch den Kopf des Monsignores sah, der mit weit aufgerissenen Augen lebendig begraben wurde, begann auch der Zugang zum Schlüsselraum einzustürzen. „Schnell Anne, komm, wir müssen hier raus!“ rief Raoul und packte ihre Hand.

Dann wurde es wieder dunkel um Anne und sie tauchte in einen traumlosen Dämmerzustand. Sie war erneut ohnmächtig geworden und Raoul schleppte sie aus dem dunklen Labyrinth an die Oberfläche. Oben angekommen, stand ein Krankenwagen dort und die Leute der Security-Firma erwarteten sie bereits. Señor Fuentes war vom Monsignore zum Glück nicht lebensgefährlich verletzt worden, worüber Raoul, Carlos und Luis sichtlich erleichtert waren. „Helfen Sie mir bitte!“ rief Raoul einer der Sicherheitsleute zu und so trugen sie Anne gemeinsam zum Krankenwagen, der sie in die nächste Klinik brachte.

Anne selbst bekam nichts mit von alledem. Sie flog auf Aquilas Rücken über den Ozean Richtung Europa um ihrem Vater in der Klinik einen Besuch abzustatten. Wieder schritt sie durch den mit Neonlicht beleuchteten Gang und rümpfte die Nase wegen des unangenehmen Geruches der Desinfektionsmittel. Doch als sie das Zimmer betrat, in dem Ihr Vater gelegen hatte, erschrak sie. Das Bett war leer und frisch bezogen. Kein persönlicher Gegenstand erinnerte mehr daran, dass er hier einst gelegen hatte und plötzlich wurde Anne schwindlig. Sie ging zu dem Bett, legte sich hinein und schloss ihre Augen.

Als sie sie wieder öffnete, lag sie immer noch in einem Spitalzimmer, aber dieses sah nun  ganz anders aus und um das Bett waren die Menschen versammelt, die sie in den letzten Monaten so sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Raoul sass neben ihr und hielt ihre Hand,  während Carlos und Luis daneben standen und sie liebevoll anlächelten. Plötzlich öffnete sich die Tür zum Zimmer und Pedro und Margaretha betraten den Raum. Anne war noch schwach, aber die Freude darüber alle wieder zu sehen erfüllte Sie mit einem wohligen Glücksgefühl.

Einen Moment lang ging ihr plötzlich die Erinnerung an das soeben Geträumte durch den Kopf. Was war mit ihrem Vater geschehen? Sie wollte den Gedanken zwar nicht zulassen, aber konnte es sein, dass er sie für immer verlassen hatte? Dass er nicht mehr aus der Traumzeit zurückehrte und auf alle Ewigkeit mit Aquila seine Runden drehen würde? Anne schloss für einen Moment ihre Augen. Der Gedanken daran möglicherweise ihren Vater verloren zu haben, riss sie einen Augenblick lang aus der Realität. Erst das Kitzeln eines Gegenstandes holte sie wieder zurück. Irgendetwas lag unter ihrem Oberschenkel im Bett, das da nicht hingehörte. Sie hob das Bein ein bisschen an und griff mit der Hand darunter. Dann zog sie eine grosse, schwarze Adlerfeder unter der Bettdecke hervor und blickte sie erstaunt an. Raoul lachte und sagte: „Ein Souvenier von Aqulia!“.

Gerade als Anne sich fragte, wie die Feder dort hingekommen sein konnte. Öffnete sich langsam die Tür zu ihrem Zimmer und Anne begann zu jubeln: „Sandra! Komm her, ich kann es gar nicht glauben! Du bist hier? Komm her und lass Dich umarmen!“. Sandra trat einen Schritt in das Zimmer, betrachtete Anne lächelnd und sagte: „Ich bin nicht alleine hier!“. Als Anne ihren Vater den Raum betreten sah, rissen alle Dämme. Sie verlor die Kontrolle über sich und heulte los! Die Tränen rannen ihr nur so in Bächen über das Gesicht und ihr Vater kam um sie in den Arm zu nehmen. Anne, war überglücklich. Sie konnte es kaum fassen, dass es ihm gut ging und er hier war und nachdem sie sich einigermassen beruhigt hatte, musste sie Sandra und ihrem Vater erzählen, was alles passiert war. Alle redeten durcheinander und draussen brach langsam die Nacht herein.

Annes Blick wanderte zum Fenster. Es stand offen und eine Gardine tanzte in einem Luftzug. Anne sank immer tiefer, wurde ruhiger und eine Träne rollte ihr über das Gesicht. Der Stoff am Fenster schien sich in Zeitlupe zu bewegen und Anne hatte plötzlich das Gefühl, dass er beseelt zu sein schien. Das tanzende Gardinenstück veränderte plötzlich seine Beschaffenheit. Es war nicht mehr so durchscheinend, die Bewegungen wurden koordinierter und geschmeidiger und Anne erkannte, dass es sich in einen Flügel verwandelt hatte.

– Ende –

Fragmente 1.34 – Die Bibliothek

Photo-Credit: Luigi Guarino @ Flickr

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Sie rannten los und erreichten mit ein paar Schritten den Eingang. Dicke, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Raoul war als erster bei der Leiter, die nach unten führte. „Los, kommt!“ rief er und Anne fasste seine Hand, die er ihr entgegen streckte. Ein zweiter Schuss zeriss die Stille der Nacht und der Monsignore schrie ausser sich vor Wut: „Ich werde Euch alle in die Hölle schicken! Bleibt stehen!“. Von der Dunkelheit geschützt kletterten sie in den unterirdischen Gang und entfernten die Leiter vom Eingang. Carlos reichte Luis und Raoul Taschenlampen aus seinem Rucksack und sie spurteten los. Allen voran lief Anne mit dem Schlüsselstein in der Hand. Sie betrachtete die Linie, die ihnen den Weg weisen sollte und befahl mit leiser Stimme in welche Richtung abgebogen werden sollte, wenn der der Gang sich hin und wieder verzweigte.

Hinter ihnen erklang plötzlich ein dumpfes Geräusch. Ein leiser Schrei signalisierte den Verfolgten, dass der Monsignore mit einem Sprung ebenfalls in den dunklen Gang eingestiegen war. „Los, weiter! Hier entlang“ flüsterte Anne und zeigte mit der Hand nach rechts in einen Tunnel, der leicht nach unten führte. „Bist Du sicher, dass wir da hinunter müssen?“ fragte Raoul. Anne antwortete nicht, sondern lief einfach los. Die Anderen folgten ihr und plötzlich endete der Tunnel in einem schachtartigen Raum. „Eine Sackgasse!“ rief Luis und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hinter ihnen hörten sie den keuchenden Atem ihres Verfolgers, der ihnen immer näher kam. Raoul leuchtete mit der Taschenlampe die Wände der Höhle ab. Der Raum hatte eine quadratische Grundfläche und schien etwa 10 Meter hoch zu sein. Anders als die Tunnel des Labyrinths schienen die Wände hier aus glatt poliertem Stein zu sein und jedes Geräusch wurde von den Wänden, wie in einem Resonanzkörper eines Instruments, verstärkt. „Hier war ich schon mal“ murmelte Anne. Aber noch bevor Sie weiterreden konnte, stiess der Monsignore zu ihnen.

„Keine Bewegung!“ schrie er und Anne blickte zu ihm hin während sich nackte Angst in Sekundenschnelle durch ihren Körper frass. Sie sah in seine schreckliche Fratze die schrecklich entstellt und verbrannt war. Der blanke Hass blitzte aus den Augen des Geistlichen und ein Fetzen der Haut seiner linken Wange hing lose herunter. Einen Moment lang fragte sie sich, ob das nur ein Alptraum war. Dann sah sie nur noch wie er seine Waffe auf sie richtete und als sich ein Schuss mit einem ohrenbetäubenden Knall löste, spürte sie nur noch, wie etwas mit einer unglaublichen Wucht in ihren Körper eindrang und sie in ein dunkles Loch stürzte.

Als Anne ihre Augen wieder öffnete, sah sie sich irgendwie selbst im schwarzen Nichts. Sie stürzte ins bodenlose. Immer weiter. Oder schwebte sie nach oben? Sie konnte sich weder bewegen, noch konnte sie überhaupt fühlen, ob sich ihre Seele noch in ihrem Körper befand. Panik überkam sie. War sie tot? Da war dieser Schuss der sie getroffen hatte. War sie stark verletzt? Sie versuchte an sich herunter zu schauen, ob sie eine Wunde entdecken konnte, doch sie konnte ihren Körper nicht wirklich erkennen. Ihre Umrisse waren nur noch als schimmernde, undefinierbare Form, als ätherische Aura vorhanden.

Plötzlich, die körperlose Stasis schien Äonen lang angedauert zu haben, wich die Stille einem Geräusch dass sie kannte. Aquila! Dann ging alles sehr schnell. Ihr Körper schien sich wieder zu manifestieren und ihr Traumgefährte tauchte unter ihr auf, um sie aus der Leere zu befreien. Sie landete auf seinem Rücken und augenblicklich fing sie sich wieder. „Aquila, bin ich gestorben?“ fragte sie ihren Freund in Gedanken. „Nein! Das bist Du nicht. Aber Du wurdest angeschossen und bist bewusstlos zusammengebrochen.“ Sie wollte wissen wie es ihren Freunden erging, doch Aquila vertröstete sie auf später. „Du hast erst noch ein wichtiges Rendezvous!“ drangen seine Gedanken in ihren Kopf. „Vater?“ Auqila bejahte und langsam sah Anne, wie die Dunkelheit um Sie herum wich. Im Leeren Raum sah sie ihren Vater in derselben Höhle sitzend, in der sie vorher angeschossen wurde. Die Wände schienen durchscheinend zu sein und Aquila blieb plötzlich in der Luft stehen und schwebte an Ort und Stelle. „Steig ab und geh zu Deinem Vater!“ drang es in ihren Kopf und Anne kletterte vom Rücken des Adlers um neben ihrem Vater wieder festen Boden unter den Füssen zu erreichen.

„Paps!“ rief sie und fiel ihm in die Arme! Sie wollte ihm so viel erzählen, aber die Sorge um ihre Freunde liess ihr keine Ruhe. Nachdem sich Anne von ihm gelöst hatte, setzte er sich wieder hin und strahlte eine Ruhe aus, die Anne fast zur Verzweiflung brachte. „Vater, ich muss zu meinen Freunden, sie sind in Gefahr! Schnell!“. Er lächelte und erklärte Anne, dass die Zeit hier in der Traumwelt anders tickte. Stunden und Tage die man hier erlebt, dauerten  auf der anderen Seite nur Minuten. „Ich muss Dir etwas Wichtiges sagen!“ fing er an und erklärte Anne, wie man den Zugang zur Bibliothek öffnen konnte. Er erzählte ihr auch von einem Sicherheitsmechanismus. Einer Falle, die den Zugang zur Bibliothek so verschliessen würde, dass sie für lange Zeit vor einem erneuten Zutritt gesichert bliebe. Anne hörte gespannt zu und versuchte sich jedes Detail genau einzuprägen. Plötzlich nahm ihr Vater ihr Gesicht zärtlich in seine Hände, küsste sie auf die Wange und sagte: „Du musst gehen!“ Wieder umschlang Anne die Dunkelheit. Nur kurz. Dann spürte sie, wie ein Sog sie zurück in ihren Körper katapultierte.

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und nun fühlte sie auch den Schmerz ihrer Schusswunde. Ihre linke Schulter war getroffen, doch die Austrittswunde am Rücken zeigte ihr, dass es ein glatter Durchschuss war. Sie blickte um sich und registrierte sofort was in der Zwischenzeit geschehen war. Raoul, Carlos und Luis sassen gefesselt im Gang aus dem sie kamen und der Monsignore hantierte mit dem Schlüsselstein an einer Öffnung in der Wand, die dem Zugang gegenüber lag. Seine Waffe hatte sich der Geistliche hinten in den Bund seiner Hose gesteckt und er bemerkte nicht, wie Anne sich heranschlich. Mit einer raschen Bewegung packte sie den Revolver, entsicherte und hielt ihn dem keuchenden Monster an den Hinterkopf.

„Was zur Hölle…“ rief er überrascht und wollte sich umdrehen. Doch Anne hiess ihn so stehen zu bleiben. „Legen sie den Schlüsselstein schön langsam auf den Boden und gehen sie dann ein paar Schritte zurück.“ Er zögerte, doch Anne drückte ihm den Lauf der Waffe noch stärker ins Genick. „Ich zögere keinen Augenblick abzudrücken!“ rief sie. „Schön langsam hinlegen“ wiederholte sie und der Monsignore gehorchte widerwillig. Dann befahl ihm Anne, die Fesseln von Raoul zu lösen, was er ebenfalls tat. Raoul verfolgte staunend wie souverän seine Geliebte die Situation meisterte. „Los Raoul, mach Deinen Mund wieder zu und fessle den Mistkerl!“ lachte Anne nun sichtlich über Raouls Gesichtsausdruck amüsiert. Raoul tat was Anne sagte und Minuten später lag der Monsignore gefesselt am Boden, während die anderen sich befreiten und zu Anne hingingen. „Du blutest stark!“ sagte Raoul besorgt und griff in seinen Rucksack, in den er auch Verbandsmaterial für den Notfall gestopft hatte, was Anne nun zugutekam. Er versuchte ihre Wunde so gut wie möglich zu verbinden. Aber es war beiden klar, dass Anne baldmöglichst in ein Krankenhaus musste. „Ich weiss, wie wir die Bibliothek öffnen können!“ raunte Sie Raoul zu. Auch Carlos und Luis hatten das gehört und kamen dazu. „Was müssen wir tun?“.

Anne erklärte, dass sich in jeder Wand eine kleine Nische befinden musste, in der sich eine Art Flöte befand. Würden diese in einer bestimmten Abfolge gespielt, so dass alle Töne zusammen am Schluss einen Akkord ergaben, würde sich das Tor öffnen. „Und was ist mit der Öffnung für den Schlüsselstein?“ wollte Carlos wissen und zeigte auf eine Einbuchtung in der Wand, in die das angesprochene Artefakt perfekt zu passen schien. „Eine Falle!“ erklärte Anne mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht. Raoul wollte wissen, was denn passiere, wenn jemand den Schlüsselstein da einfügen würde. Doch Anne wusste auch nicht mehr, als dass der Eingang der Bibliothek dann für lange Zeit so verschlossen würde, dass niemand ihn öffnen konnte. „Gut!“ meinte Raoul und fügte an: „genau das werden wir nachher tun! Doch erst möchte ich mich vergewissern, dass die Bibliothek noch immer existiert. Wollen wir sie öffnen?“. Anne nickte.

Sie tasteten die Wände des Schachtes ab und tatsächlich waren die Nischen mit den Flöten bald gefunden. Es waren vier röhrenartige Gebilde aus einem schimmernden Metall. Anne zeigte den anderen wie die Flöten gespielt werden mussten und führte das Rohr an ihre gespitzten Lippen um Luft in die horizontale Öffnung zu blasen. Ein panflötenartiger Ton erklang. Nun gab Anne die Zeichen welche Flöte in welcher Reihenfolge angespielt werden sollte. Erst gab Luis seinen Ton, dann kam der von Raouls Flöte, dann der von Carlos und am Schluss der vierte Ton von Annes Instrument dazu. Der Akkord schien genau auf die Resonanz des Raumes abgestimmt zu sein und der Klang verstärkte sich durch Hall der Wände und wurde immer lauter und stärker.

Die Luft begann zu vibrieren und plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch.

Weiter mit dem Schluss der Geschichte: Fragmente 1.35 – Einmal bis zur Ewigkeit und zurück

Fragmente – 1.33 Der Eingang

Foto-Credit Originalbild: Bruno Girin @ Flickr
Bearbeitet von Stoeps

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Ein Schrei zerriss die modrig duftende Dunkelheit in dem Labyrinth unter der Ebene von Nazca. Eine Blutspur führte vom Einstieg im Haus bis zu der Kreuzung in den Gängen, in denen der hustende Verfolger sein unrühmliches Ende fand. Am Rande des Abgrunds kniete ein älterer Mann mit kurzgeschnittenen Haaren und einer schlichten Nickelbrille, deren rechtes Glas fehlte und deren linkes Glas gesprungen war. Seine dunkle Kleidung war zerrissen, angesengt und stank nach Schweiss, Benzin und Blut. Sein Gesicht und seine Hände waren durch frische Verbrennungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.  Der Monsignore starrte in den Abgrund und blickte auf den verbogenen und aufgespiessten Leichnam seines treuen Helfers.

Er hatte Fernando schon vor über 30 Jahren in Barcelona auf einer Studienreise kennen gelernt. Der kleine Waisenjunge sass damals bettelnd beim Eingang zum Innenhof des alten Hospital de la Santa Creu I Sant Pau. Mit seinen flehenden Augen bewegte er das Herz des damals noch jungen Theologiestudenten, der nicht anders konnte und dem Jungen etwas zu essen kaufte. Jeden Tag aufs Neue, wenn der junge Geistliche durch den Carrer de l’Hospital ging, begegnete er Fernando und sie begannen sich anzufreunden. Als der Monsignore Barcelona verliess, nahm er den Jungen mit. Fernando wurde sein Schützling und Diener und zum treuen Begleiter des Geistlichen. Er  wich auch dann nicht von seiner Seite, als dieser den Pfad der Menschlichkeit verliess. Er war seinem Retter gegenüber derart loyal und verfallen dass er nicht einmal davor zurückschreckte für ihn zu töten.

„Fernando…no!“ raunte der Monsignore röchelnd in den Abgrund. In ihm kämpfte die Verzweiflung die ihm zuflüsterte, dass er sich nur fallen zu lassen brauche um wieder bei Fernando zu sein. Für immer! Aber da war auch die Wut, die ihm diese sich immer und immer wiederholenden Worte in den Kopf pflanzte: „Töte sie! Räche Fernando!“ Da ging ein Ruck durch seinen Körper. Urplötzlich und mit einer Kraft die aus dem Nichts zu kommen schien, sprang er auf und schrie. Seine Wut hatte gesiegt und er gab seinem toten Freund ein letztes Versprechen: „Sie werden sterben, ich werde sie für deinen Tod büssen lassen! Ich werde sie alle in die Hölle schicken! Langsam gingen die Batterien von Fernandos Lampe, die noch immer auf dem Boden des Abgrundes lag, zur Neige. Das Licht erlosch und tauchte das Labyrinth wieder in seine modrige Dunkelheit.

„Der Kaffee duftet ja verführerisch!“ sagte Anne den Speisesaal betretend und begrüsste Margaretha mit einem Kuss auf die Wange. „Guten Morgen, Du Schlafmütze!“ grinste Carlos und Luis stopfte sich gerade eine Gabel mit Rührei in den Mund. „Setz Dich! Hast Du gut geschlafen?“ fragte Raoul und zog Anne zärtlich auf den freien Stuhl neben ihm. Anne lächelte. Da war sie nun. Ihre neue Familie.  Sie war schon lange nicht mehr so entspannt und glücklich. Sie setzte sich an den Tisch und blickte zufrieden in die Runde. „Rührei?“ fragte Pedro, der gerade aus der Küche kam und Anne nickte dankbar! „Gerne! Ich habe einen Mordshunger!“ fügte sie an und alle lachten.

Das Frühstück zog sich bis zum Mittag hin und es wurde darüber diskutiert, was denn nun als nächstes zu tun sei. Margaretha erläuterte ihre Vermutung, wo die Bibliothek sich befinden könnte und breitete eine Karte auf dem nun abgeräumten Tisch aus. Anne beschrieb nochmals ihren Traum, in dem sie ihren Vater vor den lehmigen Hügeln von Túcume gesehen hatte. Raoul ging nach oben und kam mit dem Schlüsselstein zurück. Es war eine flache Steinplatte in deren Mitte sich eine Öffnung in der Grösse und Form des Kartensteins befand. Die Platte war mit Symbolen und Linien verziert, die wohl eine Beschreibung dessen waren, was mit dem Schlüssel zu tun sei. Anne holte nun die Replik des besagten Kartensteins und sie versuchten die beiden Artefakte zusammen zu fügen, was auch gelang. Raoul betrachtete das Bild der Symbole und Linien eingehend und erkannte, dass es sich wiederum um eine Karte handeln müsste. „Wenn wir den richtigen Eingang zur Pyramide finden würden, müssten wir es schaffen zu diesem Raum vordringen zu können. Dort endet der Weg, der hier beschrieben ist!“ sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Ende einer Linie, die vom äusseren Rahmen in die Mitte des Kartensteins führte. Die Anderen nickten zustimmend!

„Wie lange werden wir bis nach Túcume brauchen?“ fragte Anne in die Runde und es war ihr anzumerken, dass die Abenteuerlust wieder in ihr aufloderte. Margaretha erklärte ihnen den Weg der Küste entlang und erläuterte, dass sie wohl etwa mit zehn bis zwölf Stunden Fahrzeit zu rechnen hätten. „Wir können da aber nicht einfach so auf das Ausgrabungsgelände spazieren und in eine der Pyramiden eindringen!“ mischte sich Luis nun in die Diskussion. Doch Margaretha hatte schon einen Plan. Sie kannte den Chef der Security-Firma, die das Gelände nachts bewachten und würde versuchen, ihn zu erreichen. Er war ein Freund der Familie und wenn sie ihm klar machen konnte, dass sie keine Diebe waren, die Fundstücke aus dem Gebiet entwenden wollten, würde er sicher bereit sein, ein Auge zuzudrücken.

Anne wurde unruhig. Sie wollte nicht länger warten und rief: „Wenn wir jetzt losfahren, könnten wir etwa Nachts um zwei Uhr dort sein.“ Den Anderen waren die Strapazen und Gefahren des letzten Abenteuers noch zu gut in Erinnerung und die Müdigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Anne gelang es Raoul, Carlos und Luis zu überzeugen. Sie würden sich bei der Fahrt abwechseln. Wenn jeder drei Stunden fahren würde, könnten die anderen etwa 9 Stunden Schlaf bekommen, was nach Annes Meinung mehr als genug war! Luis wollte widersprechen. Er fand, es wäre auch früh genug,  am nächsten Tag zu starten. Doch Carlos stand bereits lächelnd mit gepacktem Rucksack neben ihm und Margaretha kam mit zwei Thermoskrügen gefüllt mit frischem, starkem Kaffee aus der Küche. Sie blickte zu ihrem Sohn und hiess ihn freundlich Ersatzbatterien und neue Taschenlampen aus dem Keller zu holen. Und noch ehe Luis so richtig bewusst wurde, dass er überstimmt wurde, sassen Sie bereits im Auto auf der Fahrt Richtung Túcume.

Carlos übernahm das Steuer als Erster, während Luis auf dem Beifahrersitz eingenickt war. Die Sonne schien über dem Meer, das so unendlich weit und friedlich zu sein schien. Das Auto glitt auf der Panamericana Norte und brachte die Gruppe dem Ende ihres Abenteuers immer näher. Auf dem Rücksitz studierten Anne und Raoul den Schlüsselstein und Anne zeichnete auf einem Plan des Geländes mit den Pyramiden den Standort ein, wo sie ihrem Vater im Traum begegnet war. Langsam wurde es Nacht und nachdem auch Luis seine drei Stunden als Fahrer absolviert hatten, wechselte Anne ans Lenkrad. Aus dem leise gestellten Radio klang peruanische Musik und Anne musste lächeln, als plötzlich „El Condor Pasa“ erklang. Wie es wohl Aquila erging? Spürte er drüben in der Traumwelt, dass sie ihrem Ziel immer näher kamen? Anne musste sich konzentrieren. Es war nun dunkle Nacht und die Scheinwerfer der entgegen kommenden Fahrzeuge blendeten sie. Ein bekanntes Gefühl machte sich plötzlich in ihrem Magen breit. Dieser Wagen mit dem kaputten Scheinwerfer, den Sie im Rückspiegel sah, war das nicht der gleiche, der schon kurz nach der Wegfahrt bei Margarethas Pension hinter ihnen fuhr?

Sie versuchte den Gedanken abzuschütteln. Das konnte nicht sein! Sie rechnete fest damit, dass ihre Verfolger tot oder zumindest unschädlich gemacht waren. Vor allem denjenigen mit dem Husten hatten sie doch mit eigenen Augen sterben sehen. Als Raoul das Steuer übernahm erzählte sie ihm nichts von ihren beunruhigenden Gedanken.  Aber Schlaf fand sie auch keinen mehr. Zu fest pochte dieses Knäuel in ihrer Magengegend und sandte Signale an ihr Gehirn, welches die Adrenalinausschüttung ankurbelte. Anne wollte es nicht wahr haben, aber ihre Intuition betrog sie nicht!

„Wir sind da!“ flüsterte Raoul und weckte Anne mit einem sanften Kuss. Sie hatte es doch noch geschafft eine Stunde in traumlosen Schlaf zu versinken. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer, die ihm Margaretha mitgegeben hat. „Señor Fuentes? Wir sind da! Wo können wir unseren Wagen abstellen?“ fragte Raoul auf Spanisch und hörte sich die Anweisung des Security-Chefs aufmerksam an. „Bueno!“ beendete er das Gespräch und legte auf. Er fuhr zu einem Container am Rande des Geländes und parkte sein Auto. Anne weckte nun auch Carlos und Luis und die vier stiegen aus, packten ihre Ausrüstung und gingen zum vereinbarten Treffpunkt. Anne lauschte in die Nacht und wieder zog sich ihr Magen warnend zusammen, als sie hörte, wie ganz in der Nähe eine Autotür ins Schloss fiel.

Der Bekannte von Margaretha nahm sie in Empfang und Anne zeigte ihm die Stelle auf der Karte, wo sich der Eingang zum unterirdischen Gang befand, der sie zu der Bibliothek führen sollte. Er nickte und bat die Truppe ihm zu folgen. Und tatsächlich standen sie nach etwa 15 Minuten Fussmarsch an der Stelle, wo Anne im Traum ihren Vater getroffen hatte. Bei einer aktuellen Ausgrabung wurde auch tatsächlich ein Zugang zu einem Tunnel freigelegt und Señor Fuentes beleuchtete mit seiner starken Lampe in diese Richtung. „Also los!“ raunte Anne verschwörerisch und die Gruppe machte sich auf den Weg zum Einstieg.

„Halt! Bleiben Sie sofort stehen!“ Eine Stimme zerriss die gespenstische Stille der Nacht und Anne wusste sofort, wer da aus dem dunklen Nichts auftauchte. „Der Monsignore“ flüsterte sie den anderen zu. „Halt oder ich schiesse!“ meldete sich der verwirrte Geistliche erneut! Señor Fuentes drehte sich, um mit den Verfolger mit seiner Taschenlampe zu suchen.

Plötzlich peitschte ein Schuss durch die Nacht. Fuentes gab einen röchelnden Laut von sich, drehte sich um die eigene Achse und fiel der Länge nach, die Taschenlampe unter sich begrabend, zu Boden. Dunkelheit umhüllte Anne und ihre Freunde. Und für einen Moment schien sich die Erde nicht mehr zu drehen.

„Lauft!“ brüllte Anne!

Weiter mit Fragment 1.34 – Die Bibliothek

1.32 – Das Wiedersehen

Fotocredit: 3EyePanda @ Flickr

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„Wach auf, wir sind da!“ hörte sie Raouls zärtliche Stimme an ihr Ohr dringen. Anne öffnete langsam ihre Augen und tauchte zurück in die Realität. Sie waren bei Margarethas Pension angekommen und Carlos und Luis waren bereits dabei, das Gepäck in das Haus zu tragen. Anne brauchte einen Moment um wach zu werden und stieg dann ebenfalls aus. Raoul nahm ihre Hand und lief zur Eingangstür wo Margaretha stand und sie freudig erwartete. „Wie geht es Pedro?“ wollte Anne sogleich wissen. Margaretha nahm Anne in die Arme und lächelte. „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut und er wird bald wieder der Alte sein!“ sagte sie sichtlich erleichtert. „Kommt ins Haus!“ sagte Margaretha und sie traten ein. Tatsächlich sass Pedro drinnen am Tisch und auch er freute sich über die Ankunft der vier Abenteurer. Anne nahm Pedro in den Arm und drückte ihn an ihr Herz. „Es geht mir gut! Ich bin nur noch etwas schwach auf den Beinen, aber sonst bin ich einigermassen in Ordnung!“ sagte er zu Anne und fügte hinzu: „Ich freue mich so, dass ihr wieder da seid und Raoul und Carlos gefunden habt!“

Als das Gepäck verstaut war und sie alle geduscht und sich umgezogen hatten, traf sich die Gruppe im Speisesaal. Margaretha brachte Getränke und aus der Küche duftete es herrlich! „Gleich könnt ihr alles erzählen!“ freute sie sich und verliess den Raum um gleich wieder mit einem grossen Topf voller heisser Suppe zurück zu kehren. Es wurde ein grosses Fest und hätten die Wände des Raumes Ohren gehabt, sie hätten sich über die abenteuerlichen Erzählungen gewundert. Jeder berichtete, was er erlebt hatte und langsam fügten sich die einzelnen Geschichten zu einem grossen Ganzen.

„Wir werden bald wieder aufbrechen!“ sagte Anne. Ich glaube, ich weiss nämlich wo die Bibliothek zu finden ist! „Du träumst doch!“ lachte Luis. „Nein, Luis. Jetzt nicht mehr! Aber ich habe tatsächlich davon geträumt. Mein Vater hat mir den Zugang gezeigt!“ antwortete sie und fügte unternehmungslustig grinsend an: „Wann brechen wir auf?“ „Erst mal werdet Ihr mindestens eine Nacht lang in einem richtigen Bett durchschlafen!“ sagte Margaretha bestimmt und alle nickten lachend. Lange sassen sie da, genossen das Essen und den Wein während draussen die Nacht ihre dunklen Flügel über die Stadt ausbreitete. Anne nahm Raouls Hand und blickte ihn lange und zärtlich an. „Ich bin so froh, Dich endlich gefunden zu haben!“ raunte sie leise. Raoul erwiderte ihren Blick und nickte. Er sagte nichts, aber seine Augen sprachen tausend Worte.

„Kommst Du mit raus?“ fragte er, während er vom Tisch aufstand. Anne nickte. Sie verliessen die Runde und gingen auf die Veranda. Mittlerweile war es tiefe Nacht und die Sterne funkelten am Himmel. „Anne ich…“ begann Raoul, doch sie konnte nicht anders und küsste ihn unvermittelt. Erst vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher. Es war, als würden sich all die Ängste und Qualen der letzten Wochen auflösen und zu einem Punkt im Nirgendwo zusammenschrumpfen. Sie und Raoul waren zusammen. Das war das Einzige, das für Anne im Moment zählte. Ihr Herz schien fast zu platzen und klopfte wild. „Komm!“ sagte Raoul und legte seinen Arm und ihre Schulter. „Ich will mit Dir alleine sein. Nicht mehr reden. Ich will Dich in diesem Moment nur spüren, ganz bei Dir sein und mich in Dir verlieren!“ flüsterte er. Die beiden bemerkten nicht einmal, dass sie nicht mehr alleine auf der Veranda waren. Ein paar Schritte neben ihnen standen Carlos und Luis ebenfalls eng umschlungen. Die beiden Männer schauten sich wortlos und tief in die Augen. Nur ab und zu unterbrach ein zärtlicher Kuss ihre Blicke. Als Anne und Raoul an ihnen vorbei gingen, lösten sich Carlos und Luis voneinander. Luis umarmte Anne während Raoul seinen Bruder an sich drückte. Ihr Glück war vollkommen. Wenigstens jetzt, in diesem Augenblick. „Wir werden schlafen gehen“ sagte Anne und Luis lächelte sie an. „Geniesst es!“ sagte er mit einem Zwinkern und blickte zu Carlos. Dieser nickte nur und auch sie beide verliessen die Veranda. Margaretha hatte den Tisch abgeräumt und wollte gerade eine Runde Pisco offerieren. „Nein Danke!“ sage Anne und das Lächeln in ihrem Gesicht verriet Margaretha, dass sie gar nicht erst versuchen müsste, sie umzustimmen. „Gute Nacht! Wir sehen uns morgen!“ sagte sie und setzte sich zu Pedro an den Tisch. Anne, Raoul, Luis und Carlos wünschten den beiden ebenfalls eine gute Nacht und zogen sich zurück.

Als Anne neben Raoul im Bett lag, überkam es sie. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr kontrollieren und während ihr die Tränen der Erleichterung und des Glückes über die Wangen kullerten, küsste Sie ihren Geliebten erneut. Es war ein Kuss, der nicht enden wollte. Sie löste ihre Lippen auch dann nicht von seinen, als sie begann sein Hemd aufzuknöpfen um es ihm auszuziehen. Sie sog Raouls Geruch tief in sich auf und ihr wurde dabei beinahe schwindlig. Sie strich mit ihren Händen über seine Arme und die feinen Haare fühlten sich wie tausend Federn an, die nur dazu geschaffen worden waren, sie zu streicheln. Raoul beendete den schier endlosen Kuss um nun auch Annes T-Shirt auszuziehen. Er begann ihren Körper mit seinen Lippen zu liebkosen und sie mit Küssen zu bedecken und Anne spürte seinen heissen Atem auf Ihrer Haut. Sie vibrierte regelrecht und ein wohliges Zittern durchlief sie, während Raouls Mund ihren Bauchnabel fand. Sie fühlte wie er sich noch weiter nach unten bewegte. Etwas in ihrem Kopf schien zu platzen und Annes Gefühle explodierten wie ein Feuerwerk mit tausend blütengleichen Funkenbouquets. „Hör nicht auf!“ flüsterte sie und fasste mit ihren Händen zärtlich in Raouls Locken. Er dachte nicht im Traum daran, jetzt aufzuhören und Annes Verstand schien sich in leuchtende, oszillierende Schwaden aufzulösen. Wieder trafen sich ihre Lippen und ihre Körper verschmolzen zu einem. Anne hatte aufgehört zu denken und war nur noch sie selbst! Sie spürte, wie jede ihrer Bewegungen Raoul dem Zenit der Leidenschaft näher brachte. Sie schienen gemeinsam zu schweben und Raouls Körper begann zu beben. Seine Gedanken versanken im Meer der Lust und seine Muskeln spannten sich wie der Bogen eines Kämpfers der bereit war, seinen Pfeil mit unglaublicher Kraft dem Ziel entgegen zu schicken. Ein paar Sekunden lang, die sich äonengleich und unmessbar ausdehnten, ritt Raoul auf einer kosmischen Welle, bevor sich die aufgebaute Energie wie ein Vulkanausbruch entlud.

Anne hatte das Zeitgefühl verloren und Ihre Gedanken tanzten unstrukturiert und sich verselbständigend durch ihren Kopf. Langsam fand sie sich wieder, eng an Raouls heissen Körper geschmiegt, ihre Sinne sammelnd. Anne spürte, wie erneut Freudentränen über Ihr Gesicht kullerten. Sie legte Ihren Kopf auf seine Brust während er seinen Arm um ihre Schultern legte und noch bevor sie ihm sagen konnte wie sehr sie ihn liebte, raubte ihr der Schlaf das Bewusstsein. Raoul strich Anne zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht. Er wollte nicht gleich einschlafen und beobachtete glücklich, wie sich ihr Körper immer mehr entspannte und genoss dieses Gefühl sie endlich bei sich zu haben.

Aus dem Zimmer nebenan drangen Geräusche zu Raoul hinüber, die ihn lächeln liessen. Er hörte dass er und Anne nicht die einzigen waren, die ihr Wiedersehen genossen und er war froh im Wissen darum, dass auch sein Bruder glücklich war. Langsam versank nun auch Raoul im Land der Träume. Anne lag noch immer in seinen Armen mit dem Kopf auf seiner Brust, die sich nun regelmässig hob und senkte.

Margaretha löschte das Licht in ihrem Zimmer, nachdem auch sie ins Bett gegangen war und so kehrte Ruhe in der kleinen Pension ein. Von draussen drangen ganz leise die Geräusche der Stadt an Margarethas Ohr und wiegten sie in einen entspannten Schlaf. Sie war froh, dass alle wieder da waren und die Liebenden einander gefunden hatten. Das Glück schien nun perfekt zu sein.

Doch Glück war schon immer ein Zustand, der sich durch eine besondere Flüchtigkeit auszuzeichnen schien und hätten Anne, Raoul, Margaretha und die Anderen gewusst, was sich tief unter der Ebene von Nazca gerade jetzt ereignete, hätte keiner von Ihnen ein Auge zugetan.

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