Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

cave_peru

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Anne und ihr Vater blickten einander erschrocken an. „Die Polizei!“ flüsterte sie ihrem Vater zu. „Bleib ganz ruhig, es wird sich sicher alles aufklären.“ Versuchte er sie zu beruhigen. Sandra führte die beiden Beamten in die Küche und bot ihnen einen Kaffee an. Inspektor Trost und sein Assistent nickten beide dankbar. „Bitte nehmen sie Platz.“ Sagte Sandra und goss zwei weitere Tassen ein. „Sie haben es ihrer Tochter schon erzählt?“ fragte der Beamte und schaute Annes Vater an. „Ja, sie weiss es“. Der Inspektor blickte zu Anne: „Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen 21 und 23 Uhr?“. Ihr Blut stockte in ihren Adern. Ein Zittern ergriff ihren Körper und Anne fühlte eine klirrende Kälte von ihren Füssen hochsteigen. Blitzschnell kombinierte sie und Panik begleitete die Erkenntnis, dass die Frage des Beamten nur eines bedeuten konnte: Sie wurde verdächtigt, Nick umgebracht zu haben!

„Ich war hier, bei meiner Freundin Sandra Zimmermann!“ antwortete Anne angstvoll. Sandra nickte und bestätigte Annes Aussage. Inspektor Trost bemerkte Annes Panik und versuchte sie zu beruhigen. Er erläuterte den Stand der Ermittlungen und erzählte was die Spurensicherung bis jetzt feststellen konnte. Der Fall schien recht merkwürdig. Am Tatort konnten keinerlei Spuren festgestellt werden. Einzig die Unordnung und die aufgeschlagenen Adressbücher und die Anzeige von Nicks Handy zeigte, dass die Täter scheinbar jemanden gesucht hatten. Kratzer an Nicks Handgelenken legten die Vermutung nahe, dass er an einen Stuhl gefesselt wurde und weitere Spuren an Nicks Körper zeigten darüber hinaus, dass er gefoltert wurde. „Wir vermuten, dass die Täter wollten, dass Nick den Aufenthaltsort einer ihm bekannten Person preisgibt. Anschliessend wurden ihm mehrere Stichwunden zugefügt. Er verblutete in kurzer Zeit am Tatort, ohne dass er Hilfe holen konnte.“ Anne wurde schlecht und sie kämpfte mit ihrem Magen.

Der Inspektor fuhr weiter “ Wir machen uns sorgen, dass die Mörder von Nick nach ihnen suchen! Denn warum hätte ihr ehemaliger Lebenspartner sonst diese Nachricht in seinem eigenen Blut hinterlassen sollen?“ Er machte eine kurze Pause. „Kannte er ihren jetzigen Aufenthaltsort?“ fragte der Inspektor weiter. Anne überlegte fieberhaft. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie erwähnt, dass Sie zu Sandra ginge. Da sich Nick aber nie für ihre Freunde interessierte, war sie ziemlich sicher, dass er nicht einmal wusste, wo Sandra wohnte. „Er wusste, dass ich bei meiner Freundin bin, aber ich glaube, er wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Es interessierte ihn nie besonders, wer meine Freunde waren.“ sagte Anne. „Das könnte nun ihr Glück sein!“ raunte Inspektor Trost und kontrollierte, ob sein Assistent auch alles korrekt protokolliert hatte. Nachdem die Beamten noch einige Fragen gestellt und angekündigt hatten, dass ab sofort ein Streifenwagen vor dem Haus von Sandra postiert würde, verabschiedeten sich die beiden Polizisten.

Sandra, Anne und ihr Vater sassen schweigend in der Küche. Nach einigen Minuten sagte Anne leise: „Es geht um Raoul! Es kann nur um Raoul gehen!“. Sie erzählte ihrem Vater von Raouls Anruf und dass sie sich Sorgen machte. Annes Vater hörte zu und sie sah ihm an, dass er mehr wusste, als er bis jetzt erzählte. Langsam kamen Anne auch die Bilder vom letzten Traum wieder in den Sinn und sie erzählte ihrem Vater auch davon. Nun kam plötzlich Leben in den älteren Herrn, der Anne liebevoll anblickte. Je mehr Anne erzählte umso grösser wurden seine Augen. „Anne, was Du da geträumt hast, ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt!“ sagte er und begann zu erzählen. Anne dachte bis jetzt immer, sie hätte ihren Vater so gut gekannt, wie ein Kind seinen Vater nur kennen könnte. Aber nun wurde ihr klar, dass dies ein Irrtum war.

Er erzählte ihr davon, dass in letzter Zeit immer mehr Hinweise gefunden wurden, dass Amerika schon lange vor Columbus entdeckt wurde und es schon immer einen Austausch zwischen den verschiedenen Hochkulturen gab. Er erzählte von einer Gruppe von Forschern, die eine These entwickelt hatten, nach der die geistigen Führer, Schamanen, Weisen und Philosophen der alten Völker in Verbindung standen. Es gab sogar einige Wissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass es irgendwo auf der Erde eine antike Bibliothek mit dem Wissen der gesamten Menschheit geben müsse. Unter anderem seien dort auch Schriften aus der Bibliothek von Alexandria gelagert, welche gerettet wurden, bevor dieses riesige Archiv antiker Schriften dem Feuer zum Opfer viel.

Raouls Vater stiess vor einigen Jahren in Peru auf eine Höhle, in der er verschiedenste Schriften aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Völkern gefunden hatte, was ihn glauben liess, auf die besagte Menschheits Bibliothek gestossen zu sein. Anne hörte gebannt zu. Die Bilder ihres Traumes wirbelten wieder durch ihren Kopf. „Und was hat Raoul damit zu tun?“ fragte sie nach. „Raoul arbeitet bei seinem Vater im Team. Sie konnten in den letzten Jahren einige Schriftstücke bergen und identifizieren. Allerdings ist ein Grossteil der Höhle komplett eingestürzt und nicht mehr zugänglich. Für weitere Grabungen fehlte aber das Geld. Scheinbar hatte jemand davon erfahren, und versuchte nun, diese Höhle zu finden, was wir Wissenschaftler allerdings verhindern möchten. Dieses Erbe der Menschheit sollte nicht in die Hände eines einzelnen Staates fallen. Es soll bleiben wo es ist und erst, wenn die Menschheit soweit ist, sollte sie davon erfahren. Ich bin in einer Gruppe von Forschern, die versuchen, wissenschaftliche Ergebnisse allen Menschen zugänglich zu machen. Nicht nur einige wenige sollen von den Erkenntnissen profitieren, sondern die gesamte Menschheit.“ Anne erinnerte sich an die Tätowierung auf dem Rücken ihres Vaters. Gerade als sie ihn danach fragen wollte, klingelte Annes Handy.

Als sie auf das Display blickte, stockte ihr Atem. „Es ist Raoul!“ rief sie und klappte ihr Telefon auf, um es an Ihr Ohr zu halten. „Raoul?“ fragte sie und fuhr weiter: „hier ist Anne!“ Aber sie hörte nur ein Rauschen und Klicken. Sie fragte nochmals und ihre Stimme klang sorgenvoll:

„Raoul? Bist Du das?“

Weiter mit Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.5 – Gefahr droht

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum

Anne versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bringen. Der Traum von letzter Nacht hatte sie total verwirrt. Es fiel ihr schwer, wieder vollkommen zurück in die Realität zu finden. „Frühstück ist fertig!“ hörte sie Sandra von unten rufen. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee drang in ihre Nase und von draussen schlängelten sich Sonnenstrahlen durch das Fenster in das Zimmer. Anne schwang ihre Beine aus dem Bett um aufzustehen. Es knirschte seltsam unter ihren Fusssohlen. Sie schaute nach unten und staunte nicht schlecht, als sie ihre Füsse betrachtete. Sie waren voller Sand, als wäre sie erst von einem Strandspaziergang zurück gekehrt. Sand? Wie um alles in der Welt war das möglich?

Urplötzlich erinnerte sie sich an ihren gebrochenen Fingernagel, ein Ereignis aus ihrem Traum von vor zwei Tagen, das ebenfalls nach dem Aufwachen als Souvenier ihres nächtlichen Abenteuers zurückblieb. Sie überlegte, ob sie vielleicht nachtwandelte. So wären diese Phänomene leicht erklärbar. Die schmutzigen Füsse waren vielleicht das Ergebniss eines nächtlichen Spazierganges im Garten von Sandra. Anne schüttelte diese Gedanken ab, stand auf und zog sich eine Jeans und ein frisches T-Shirt über. „Ich komme!“ rief sie Sandra entgegen und ging nach unten in die gemütliche Wohnküche, wo Sandra gerade Rührei aus einer Bratpfanne in zwei Teller gabelte. Es roch herrlich! Frisches Brot, Kaffe und Rührei. Anne setzte sich dankbar an den Tisch und roch an der Rose, die einsam in einer schlanken Vase auf dem Tisch stand.

Während dem Frühstück erzählte sie Sandra von ihren nächtlichen Erlebnissen und ihre Freundin hörte ihr aufmerksam zu. Man konnte ihr ansehen, dass sie nicht recht wusste, ob sie darüber lachen oder ob es ihr unheimlich sein sollte. „Anne, irgendetwas läuft hier nicht so, wie es laufen sollte!“ Sandra blickte ihre Freundin aufmerksam an. „Ach was! Ich habe nur geträumt! Da ist nichts Ungewöhnliches dabei!“ versuchte Anne abzuwiegeln. Doch in ihrem Innern machte sich ein seltsam metallisches Gefühl breit. Irgendwie konnte sie fühlen, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es war. Sie spürte instinktiv, dass sich ihr Leben bald von Grund auf verändern würde. „Paps!“ sagte sie mit vollem Munde. „Ich muss Paps anrufen!“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, klingelte es an der Tür. Sandra stand auf ging den Hausflur entlang um nachzusehen, wer der frühe Besucher war. „Anne!“ hörte sie Annes Vater von draussen rufen. „Anne, bist Du da?“ Sandra öffnete die Haustür und lies Annes Vater herein. „Wo ist sie?“ fragte er Sandra ungeduldig. „In der Küche“ antwortete Sandra und führte den sichtlich aufgeregten Mann zu seiner Tochter. „Kaffee?“ fragte Sandra und Annes Vater nickte. „Danke! Den kann ich jetzt brauchen!“

„Paps, was ist los?“ fragte Anne und schaute ihren Vater neugierig an. „Die Polizei hat bei mir angerufen und nach Dir gefragt!“ „Die Polizei?“ Anne blickte ihren Vater ungläubig an. Sie dachte nach und forschte nach einem Grund. „Anne, Du musst jetzt stark sein.“ „Paps, nun sag schon, was ist passiert?“ Er überlegte einen Moment, dann fing er an zu erzählen, was sich abgespielt hatte. „Die Polizei rief mich gestern Abend an, weil…“ er zögerte. Dann brach es aus ihm heraus „Nick ist tot!“ Anne erstarrte, sie konnte nicht glauben was ihr Vater gerade gesagt hatte. „Nick ist …tot?“ „Hat er sich das Leben genommen? Bin ich schuld? Ich hätte nie gedacht dass er…“ aber Annes Vater unterbrach sie. „Ermordet! Er wurde umgebracht!“. Sandra prustete los. Vor Schreck hatte sie sich an ihrem Kaffee verschluckt. „Nick ermordet?“ Anne sass da, wie vom Donner gerührt. Ich habe der Polizei gesagt, dass sie Dich hier erreichen könnten. Sie werden sich wohl bald melden. „Anne, du bist in Gefahr!“ Anne schaute ihren Vater erschrocken an. „Nick hat während seinem Todeskampf mit einem Finger eine Nachricht in einer Blutlache hinterlassen. „Wie…aber…ich..“ Anne stammelte. „Was hat er geschrieben?“ Ihr Vater zitierte was ihm die Beamten erzählt hatten. Dort stand:

„Anne lauf weg“

Anne versuchte sich zu sammeln. Ihr Gefühl, dass sich ihr Leben verändern werde, wurde nun allzu schnell zur unumstösslichen Wahrheit. Sie hätte nur nie gedacht, dass dies in dieser Form geschehen würde. Warum wurde Nick ermordert? Wieso hatte er versucht sie zu warnen? Trachtete auch jemand nach ihrem Leben? Waren sie alle in Gefahr?
Annes Vater riss sie aus Ihren Gedanken. „Anne, ich muss Dir noch etwas sagen. Es geht um Raoul Ramirez!“ Annes Augen weiteten sich! „Raoul? Du kennst Raoul? Aber woher…“ ihr Vater unterbrach sie. „Ich habe ihm damals die Firma empfohlen, bei der Du gearbeitet hast. Und ich habe auch Deinen Chef gebeten, Dich mit dieser Aufgabe zu betreuen. Ich kenne Raoul durch meine Forschungsarbeiten. Er ist der Sohn eines befreundeten Wissenschaflters aus Peru. Er wollte sich morgen mit mir in Bern treffen. Aber ich habe von seiner Assistentin die Nachricht erhalten, dass Raoul vermisst würde. Er war nicht am Flughafen erschienen.“Anne schaute ihren Vater an. Einmal mehr versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und plötzlich war ihr klar, was zu tun war. „Ich werde nach Peru fliegen!“ Sie erinnerte sich an Ihren Traum und blitzartig war ihr klar, dass es nur diese Möglichkeit geben konnte.

Annes Vater wollte gerade widersprechen, als es abermals an der Tür klingelte. Sandra stand auf und öffnete. Anne hörte eine Männerstimme „Kriminalpolizei, Inspektor Trost. Sind sie Anne Kammermann?“

Weiter mit Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fragmente 1.3 – Raoul

Tausend Bilder zogen an Anne vorbei, als sie auf dem Rücken des Adlers Richtung Südwesten flog. Unter sich sah sie grosse Gebiete mit bunten Feldern, die mit Strassen durchzogen waren. Ab und zu erschienen graue Strukturen von Städten die aussahen wie Krebsgeschwüre in der grün-gold-blauen Haut der Erde. Die Küste Portugals kam in Sichtweite und ganz in der Ferne konnte Sie sogar die Meerenge von Gibraltar erkennen. Als sie das Festland hinter sich liessen und über das offene Meer flogen, veränderte sich die Szenerie langsam.

Anne sah schwebende Inseln, auf denen Sie Menschen, Bauwerke und ganze Städte ausmachen konnte. Auf einigen Inseln waren, wie in einem Museum verschiedene Szenen mit Menschen dargestellt. Die meisten dieser Bilder zogen an ihr vorbei, ohne dass sie Einzelheiten oder gar den Sinn des Dargestellten erkennen konnte. Andere Sequenzen aber schienen sich zu ganzen Panoramen zu verbreitern und ermöglichten es ihr sogar Details zu erkennen. Eine dieser schwebenden Inselwelten faszinierte Anne besonders. Sie schien eine antike ägyptische Stadt zu beherbergen. Anne wies den Adler in Gedanken an, diese Stadt anzufliegen und als sie näher kamen, verlangsamte ihr fliegender Freund sein Tempo, damit Anne mehr erkennen konnte.

Annes Vater war Historiker und beschäftigte sich vorwiegend mit Papyriologie und Epigraphik alter Völker. So hatte sie in ihrer Kindheit sehr vieles über antike Kulturen erfahren und sich auch immer sehr dafür interessiert. Dies half ihr einzuordnen, was sie sah. Die Stadt, die sie nun anflog, besass eine vorgelagerte Insel, auf der sie einen grossen Turm ausmachen konnte. Anne war sich sicher, dass es sich um das antike Alexandrien handeln musste und sie wollte unbedingt mehr davon sehen. „Aquila“ rief sie ihrem Traumadler in Gedanken zu „lande hier!“ Bis jetzt hatte sie nicht darüber nachgedacht, ob ihr Adler einen Namen besass. Aber genau jetzt, in diesem Moment wusste sie, dass er Aquila hiess. Sie hatte jetzt keine Zeit länger darüber nachzudenken und sie beschloss, diesen Namen einfach als intuitiven Gedanken anzunehmen. Anne begann immer mehr zu begreifen, dass Intuition in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen würde.

Aquila und Anne landeten in der Nähe der Küste, im nordöstlichen Teil der Stadt. Schnell war Anne klar, dass sie sich hier in einem noblen Viertel befand, denn die Häuser und Strassen waren erstaunlich schön und massiv gebaut. Niedrige Gebäude wechselten sich mit freien Plätzen, Gärten und Palmenalleen ab. Die Sonne leuchtete hell und alles schien in goldenem Licht zu baden. Anne lief staunend eine dieser Prachtstrassen entlang und stand schliesslich vor einem grossen Gebäudekomplex. Dessen Architektur und Schönheit übertraf alles, was sich Anne damals in ihren kühnsten Kinderträumen vorgestellt hatte. Die Stirnseite bildete eine Art nach oben konisch zulaufendes „H“ dessen Stützpfeiler je ca. 40% der Vorderseite einnahmen. Im schmalen Teil dazwischen ruhte ein grosses Tor. Anne suchte in ihren Erinnerungen nach Ideen, um was für ein Gebäude es sich handeln konnte.

Eine bekannte Stimme hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken: „Was tust Du hier mein Kind?“ Sie schaute sich erschrocken um und erblickte zu ihrem grossen Erstaunen ihren eigenen Vater, der in für diese Zeit üblicher Bekleidung vor ihr stand und sie milde anlächelte. „Paps? Was tust Du denn hier?“ Der freudige Ausdruck im Gesicht ihres Vaters wich langsam einer besorgten Mine und er hob eine Hand um Anne eine Strähne ihres dunklen, langen Haares aus der Stirn zu streichen. „Ich rette, was zu retten ist!“ Sagte er. Ihr fielen ein paar Papyrus Rollen unter seinem linken Arm auf und wollte weitere Fragen stellen, doch ihr Vater fuhr weiter: „Bald wird die Bibliothek von Alexandrien zerstört werden und wir bringen alles in Sicherheit. An einen Ort, den niemals jemand finden sollte! Keine Macht der Welt soll je über all das gesammelte Wissen der antiken Zeit verfügen. Erst wenn das Wissen allen Menschen zur Verfügung gestellt werden kann, ohne den Einfluss von machthungrigen Staatsmännern und Regierungen, werden wir das Wissen mit der gesamten Menschheit teilen!“ Anne erkannte auf einer der Papyrusrollen ein Symbol, dass ihr schon als Kind aufgefallen war. Es waren zwei ausgebreitete Arme die sie als kleine Tätowierung zwischen den Schulterblättern von ihrem Vater gesehen hatte.

Anne versuchte herauszufinden, was hier eigentlich los war und hatte schon eine Frage an ihren Vater auf ihren Lippen als plötzlich, mit einem quietschenden Geräusch, ein Auto um die Ecke bog. Männer feuerten aus geöffneten Fenstern mit Maschinenpistolen auf sie. Anne und ihr Vater flohen durch das Tor in das grosse Gebäude. „Du musst gehen! Sprich mit mir, wenn Du von Deiner Reise zurückgekehrt bist!“ In Anne’s Kopf wirbelten die Gedanken wie Blätter in einem herbstlichen Sturm. Was hatte das alles zu bedeuten? Ihr Vater im alten Ägypten als Retter von antiken Büchern? Autos und Maschinengewehrfeuer? Vor fast 2000 Jahren? Anne rannte zu Aquila zurück an den Hafen und stieg, völlig ausser Atem, auf dessen Rücken. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob er sich mit Anne in die Luft und die Szene unter ihnen wurde kleiner und kleiner. Die schwebende Insel mit der antiken Stadt Alexandria verschwand langsam im Dunst der Ferne während Annes Gedanken durch ihren Kopf tobten.

Langsam wurde Ihr bewusst, dass sie sich in einem Traum befand. Dies fühlte sich seltsam an für sie, denn alles schien ihr so intensiv und real. Und in ihr wuchs die Überzeugung, dass ihr in dieser Traumreise etwas mitgeteilt werden sollte, dass für ihr weiteres Leben eine wichtige Bedeutung haben sollte. Aquila trug Anne immer weiter und sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ihr gefiederter Freund plötzlich einen schrillen Schrei ausstiess. Anne blickte nach unten und sofort wusste sie, wo sie sich befanden. Unter ihnen erstreckte sich eine weite Ebene, auf der sie riesige Symbole erkannte. „Wir sind in Peru! Das sind die Ebenen von Nazca!“ rief Anne laut aus.

Unten auf der Ebene stand jemand. Die Person war noch zu weit entfernt als dass Anne sie hätte erkennen können. Doch schnell kamen sie näher und ein Lächeln ergriff Besitz von Annes Gesicht. Raoul stand dort unten und winkte ihr schon von weitem zu. Er erwiderte ihr Lächeln und Annes Herz beschleunigte seinen Rhythmus während sie vom Rücken von Aquila stieg um Raoul entgegen zu eilen. Sie sah auch ihn auf sich zulaufen und in seiner linken Hand erkannte sie eine der Papyrusrollen, die sie schon bei Ihrem Vater gesehen hatte. Es kam ihr merkwürdig vor, doch im Moment wollte sie nichts anderes, als Raoul endlich wieder in seine wunderschönen Augen zu blicken. Doch mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging, schien er sich weiter zu entfernen und die Szene wurde immer blasser.

Anne wurde schwindlig und plötzlich umfing sie eine bilderlose Dunkelheit. Sie fiel in ein schwarzes Loch, das kein Ende zu nehmen schien. Aus weiter Entfernung hörte sie eine Stimme an ihr Ohr dringen „Anne!“. Sie wehrte sich gegen das Aufwachen, wollte zurück auf die Nazca-Ebene zu Raoul. „Anne, wach auf, schnell!“. Ihr Kopf pochte, ihr ganzer Körper war angespannt und sie fühlte sich, als hätte sie einen handfesten Kater. Wieder vernahm sie die quälende Stimme: „Anne! Bitte wach endlich auf!“ Sie atmete tief ein und lies die Luft langsam aus ihrem Körper entweichen. Dann schlug sie die Augen auf und erkannte das Gesicht von Sandra vor sich.

Sandra sah besorgt aus. In ihrer rechten Hand hielt sie ein schnurloses Telefon. „Anne, dein Vater hat gerade angerufen. Du sollst Dich unbedingt sofort bei Ihm melden! Es muss etwas passiert sein, denn er klang sehr besorgt und aufgeregt!“

Weiter mit Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.3 – Raoul

Fotocredit: Jessie Reeder

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Annes Lippen kräuselten sich, als sie ihren Atem mit einem leisen Geräusch entweichen liess. „OK – ich rufe ihn zurück!“ Sandra blickte sie gespannt an „Jetzt gleich?“ wollte sie wissen. Aber Anne wiegelte ab. Sie wollte sich erst klar werden, ob sich ihre Entscheidung gut anfühlte und was Ihr Herz, nachdem es sich langsam wieder beruhigt hatte, dazu sagen würde. „Diese Sache mit Raoul damals war echt hart für mich“ begann Anne Sandra zu erklären. Noch nie hatte sie sich so Hals über Kopf in einen Mann verliebt. Noch dazu in einen, der ungreifbar erschien. Lebte er doch damals in Peru. Und er musste noch immer dort leben, denn die Nummer war die gleiche wie damals, sonst hätte ihr Handy ja den Anrufer nicht erkannt. „Ich weiss nicht was mit mir geschieht, wenn ich seine Stimme wieder höre“ sinnierte Anne weiter und Sandra hing an ihren Lippen. „Was, wenn meine Gefühle auf einmal wieder da sind? Ich brauchte damals so lange, bis ich Raoul wieder vergessen konnte.“

Sandra verdrehte die Augen „Aber es wird doch einen Grund geben, warum er dich nach so langer Zeit versucht hat anzurufen?“ Annes Gedanken begannen zu kreisen. „Vielleicht hat er dich niemals vergessen können“ doppelte Sandra nach. „Und warum ruft er genau jetzt an, einen Tag nach dem ich meine Beziehung mit Nick beendet habe? Glaubst Du an Zufälle?“ Anne blickte ihre Freundin fragend an. „Oder glaubst Du an Schicksal?“. Sandra legte sich ihre Antwort im Kopf zurecht und antwortete geheimnisvoll „Nichts von beidem existiert wirklich!“ Anne dachte nach. Was konnte Sandra damit meinen? „Es ist nicht so einfach zu erklären, was ich glaube“ fuhr Sandra weiter. „Das Schicksal ist nicht festgeschrieben, aber es geschieht auch nichts zufällig in unserem Leben. Alles hat seinen tieferen Sinn!“

Plötzlich wurde Anne hektisch „Ich rufe ihn an! Gleich jetzt!“. Sie tippte auf die Rückruftaste ihres Handys und hielt es an ihr Ohr. Ein Zittern ergriff ihren ganzen Körper und irgendwie fühlte sie sich plötzlich so durchsichtig, irgendwie flüchtig und es war ihr, als könnte sie Raouls Gesicht ganz nahe bei Ihrem fühlen. Sie fieberte dem Moment entgegen in dem sie Raouls Stimme hören würde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und als sie endlich ein Knacken in der Leitung vernahm, blieb ihr Herz für eine Zehntelssekunde lang stehen. Sie hörte ein heftiges Atmen, als ob jemand um sein Leben rannte. „Moment bitte! Warte, leg nicht auf!“ Raouls Stimme klang gehetzt. Anne hörte schnelle Schritte, weit entfernt bellten mehrere Hunde und plötzlich zeriss ein Knall die unheimliche Szene. „Scheisse – diese Idioten meinen es ernst“ stiess Raoul hervor. Anne erschauderte. Ihre anfängliche Nervosität war nun blanker Angst gewichen. „Raoul, um Gottes Willen, was ist los bei Dir?“ Anne fror. „Warte, bitte warte und bleib dran!“ hörte sie Raoul jetzt schreien. „Ich bin gleich in Sicherheit!“ Dann vernahm sie durch das Telefon wie sich die Szenerie am anderen Ende der Verbindung veränderte. Stimmen von vielen Menschen drangen an Ihr Ohr. Das Atmen von Raoul wurde ruhiger. „Ich habe sie abgehängt! Ich sitze jetzt in einem Café. Hier wird mich niemand verfolgen!“
Anne atmete schnell, ihre Gefühle fuhren Achterbahn und am liebsten hätte sie Raoul tausend Fragen gestellt. Was er denn jetzt so mache, wie es ihm gehe, warum er sich jetzt gemeldet habe und überhaupt wollte sie ihm irgendwann alles über ihre Gefühle von damals erzählen. Jetzt aber brachte sie nicht viel über ihre Lippen: „Raoul, was ist los bei Dir? Du machst mir eine Höllenangst!“

Dem Klang seiner Stimme konnte sie anhören, dass er jetzt lächelte und sie kannte dies Lächeln, dass einem die Sonne ins Herz scheinen liess. „Ich bin da in etwas hineingeraten, das ich selbst noch nicht richtig verstehe!“ sie hörte wie er nun in spanisch ein Bier bestellte, dann wendete er sich wieder an sie „Bei einer Grabung sind wir auf eine Höhle gestossen, die uns zu einem Raum führte, der unzählige antike Schriftstücke enthielt. Ich glaube, es handelt sich dabei um eine Art Bibliothek. Das Verrückte dabei ist, dass die ersten Funde die wir begutachteten, aus den verschiedensten Regionen der Erde stammten. Sogar eine Schriftrolle in aramäischer Sprache war dabei. Alles ist sehr rätselhaft“ Anne versuchte das Gehörte irgendwie einzuordnen. Sie wusste das Raoul Archäologie und ein paar Semester Theologie studiert hatte und sie sah ihn vor sich, wie er in diesen geheimnisvollen Raum eindrang und als erster Mensch seit unzähligen Generationen die Luft dort drin einatmete. „Vor ein paar Tagen verschwand urplötzlich der Grabungsleiter und zwei Hilfsarbeiter. Und seit gestern, werde ich verfolgt. Ich habe keine Ahnung wer hinter mir her ist und warum. Aber ich habe eine Scheissangst!“ Anne hörte zu, langsam konnte sie sich wieder etwas beruhigen. „Und warum hast Du  ausgerechnet mich angerufen?“ fragte sie nun, sich selbst Luft mit einer Serviette zufächelnd. „Weil ich seit Tagen jede Nacht von Dir träume, Anne!“ Anne schluckte hörbar „Ich habe dich in all den Jahren nicht vergessen können!“ hörte sie Raoul leise sagen.

Eine Träne rann über ihre Wange, blieb an ihrer Oberlippe hängen um sich dann zu lösen und mit einem leisen Blubb in ihren Kaffee zu fallen. „Seit ich mich damals am Flughafen von dir verabschiedet habe, hatte sich Dein Gesicht in mein Gedächtnis gebrannt. Ich hätte damals nicht einfach gehen dürfen. Aber ich wusste, dass Du nicht frei bist und ich machte mir Vorwürfe wegen des Abschiedskusses und weil ich fühlte, wie sehr ich Dich damit in Bedrängnis brachte.“ In Annes Kopf drehte alles. Wären da oben irgendwelche losen Gegenstände, sie würden jetzt mit voller Wucht gegen ihre Schädeldecke gedrückt. „Raoul“ Anne versuchte zu sprechen, „ich weiss nicht, was ich sagen soll! Ich weiss nur, dass ich mich seit Deinem Anruf komplett ausserhalb der Normalität befinde.“ Sehnsucht packte ihr Herz und auf einmal fühlte sie nur noch dieses brennende Verlangen Raoul zu umarmen, seine Haut zu riechen, seinen Puls zu fühlen, sein Gesicht in ihre Hände zu nehmen und ihn zärtlich, innig und dann leidenschaftlich zu küssen.

Sie fühlte sich wie ein einziges Vakuum, dass nur noch von dem Wunsch beseelt war, all die verpassten Jahre aufzuholen. „Ich würde Dich so gerne sehen!“ Raouls Stimme wurde weich und er sagte: „Das kannst Du bald! Ich werde übermorgen nach Europa fliegen um Professor Carlitos in Bern zu treffen.“ Annes Herz begann augenblicklich wieder einen schnelleren Rhythmus anzuschlagen. „Anne, bist Du noch dran?“ „Ja, Raoul!“ Anne wurde heiss und kalt zugleich. „Ich möchte Dich sehen, unbedingt!“ Ihre beiden Stimmen sagten diesen Satz synchron, als ob sie ihn schon hunderte Male gemeinsam geübt hätten. „Ich muss jetzt auflegen! Ich melde mich bald bei Dir!“ Anne wollte nicht, dass er das Gespräch schon beendete, es gab noch so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte! „Ich kann es kaum erwarten, Dich wieder in meine Arme zu nehmen!“ Raouls Stimme enthielt dabei soviel Wärme dass Anne kaum ein Wort mehr darauf erwidern konnte. „Ich freue mich auch!“ sagte sie.

Das Flirren der Luft, das Knistern und all diese blühenden Gedanken nahmen ein abruptes Ende als Raoul plötzlich hastig in sein Telefon sprach „Ich muss Schluss machen, Anne. Sie kommen! Ich muss hier weg!“ „Raoul! …Raoul…?“ aber ein Klicken in der Leitung unterbrach das Gespräch.

Anne sank in ihren Stuhl zurück und ihre Augen wanderten zu Sandra, die das ganze Gespräch mitverfolgt hatte. Annes Freundin sah sehr besorgt aus. Sie streckte Ihre Arme aus um Anne zu umarmen. Anne legte ihren Kopf an Sandras Schulter und fühlte sich für den Augenblick geborgen.

Tausend Fragen tanzten durch ihren Kopf und vor Sorge würde sie diese Nacht kein Auge schliessen können, dessen war sie sich sicher. Doch es kam anders. Die Aufregung des Tages forderte ihren Tribut und als Anne an diesem Abend in das Bett stieg, dass in Sandras Gästezimmer stand, schlief sie sofort ein!

Aber es war ein unruhiger Schlaf und bald schon sass Anne wieder auf dem Rücken des Adlers, der mit ihr über den Atlantik flog.

Weiter mit Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum