Fragmente 1.11 – Eine Aufgabe aus dem Traumland

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Fotocredit: Calafellvalo @ flickr

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.8 – Die Warnung / Fragmente 1.9 – Das Räsel

Fragmente 1.10 – Der Stein der Wahrheit /

Die Zeit schien nun komplett still zu stehen. Anne spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen und sah das in Panik verzerrte Gesicht ihres Vaters neben sich. Plötzlich wurde sie ganz ruhig und konzentrierte sich auf den Himmel, den sie durch die Autoscheiben sah. „Aquila“ rief sie und hoffte, dass Ihr gefiederter Freund kommen würde, um sie aus diesem schrecklichen Albtraum zu befreien. Aber Aquila kam nicht und Anne begriff, dass es diesmal kein Traum war. Am Rückspiegel des Autos baumelte ein Lufterfrischer in Form einer kleinen, grünen Tanne der in Zeitlupe hin und her schlingerte. Anne hörte die Karosserie des Wagens knirschen und ächzen und langsam, fast wie in schwereloser Umgebung, schwebte eine zusammengefaltete Strassenkarte durch den Innenraum des Fahrzeuges. Noch bevor die Angst wieder von Anne Besitz ergreifen konnte, riss sie ein ohrenbetäubender Knall in ein dunkles, schwarzes Nichts und die Bilder um sie herum verschwanden im Augenblick eines Wimpernschlages.

Wie lange die Dunkelheit andauerte, vermochte Anne nicht abzuschätzen. Aber irgendwann ging diese endlos scheinende Nacht langsam in eine schwache Dämmerung über. In weiter Ferne konnte sie eine verschommene Lichtquelle wahrnehmen und langsam wich die bleierne Schwere ein wenig von ihrem Körper. Sie spürte, dass sie nicht alleine war. Wie aus weiter Ferne hörte sie Schritte. Schuhe knirschten auf sandigem Boden und das Geräusch bewegte sich auf sie zu. Eine vertraute Stimme drang in ihren Kopf „Anne?“. Langsam und vorsichtig drehte sie ihren Kopf in die Richtung aus der sie ihren Namen hörte. „Anne? Bist Du wach?“ fragte die Männerstimme. Anne traute Ihren Augen nicht. „Raoul, bist Du das?“ fragte sie und tatsächlich blickte sie in seine wunderschönen Augen. „Raoul!“ Tränen rannen ihr über das Gesicht und Raoul nahm sie in den Arm. Anne spürte wie die Hoffnung, dass dieser Moment nie enden würde, von ihr Besitz ergriff und jede Zelle ihres Körpers durchfloss. Sie schmiegte sich an Raoul und fühlte sich seit langer Zeit das erste Mal wieder geborgen.

Nach einiger Zeit löste sie sich von Raoul und er blickte sie liebevoll an. Anne konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Aber plötzlich zog etwas hinter ihm ihre Aufmerksamkeit auf sich. Jemand stand hinter Raouls Rücken und schien nur darauf zu warten, bis er Anne ebenfalls begrüssen durfte. Der Silhouette nach musste es sich um einen Mann handeln, dachte Anne und als diese Person näher zu ihr trat, erkannte sie ihren Vater. „Paps!“ Sie umarmten sich und Ihr Vater blickte sie liebevoll an. „Anne, wie geht es Dir? Ich bin so froh, dass du endlich aufgewacht bist.“ Anne war ziemlich verwirrt. Wie kam sie hierher? Gerade erst befand sie sich noch in einem Auto, dessen Bremsen nicht funktionierten und das deswegen eine Kurve nicht erwischte und nun war sie in einer Höhle mit Raoul und ihrem Vater. „Paps, ich verstehe nicht?“ begann sie, aber ihr Vater fiel ihr ins Wort: „Finde Raoul, flieg nach Peru und nimm den Stein mit! Ich werde das nicht tun können, aber es ist enorm wichtig! Wirst Du das für mich tun?“ Anne nickte zögernd. „Geh in mein Haus und sieh in meinem Schreibtisch nach. Unter der untersten Schublade auf der rechten Seite gibt es ein Geheimfach. Dort findest Du ein Handy und einen Umschlag mit Geld. Nimm es und hol Dir den Stein!“. „Ja Paps, das werde ich für Dich tun!“. „Ich wünsche Dir viel Glück und Mut. Ich weiss, dass du es schaffen wirst!“. Annes Vater löste sich aus der Umarmung und stand auf. „Aquila wartet draussen auf Dich“ sagte Raoul zu Annes Vater und dieser nickte, sah Anne liebevoll an und ging dem Höhlenausgang entgegen. „Wir sehen uns! Bis bald!“ rief er über seine Schulter zurückblickend. Anne versuchte aufzustehen um ihm zu folgen. Doch plötzlich wurde sie von einer starken Müdigkeit übermannt. „Aquila ist hier? Ich … ich habe geträumt?“ murmelte sie und dann versank die Welt um sie herum im Dunkel der Bewusstlosigkeit. Raouls Gesicht schien in eine endlose Ferne zu entschwinden und Anne schlief ein.

Langsam, wie Eisblumen die sich an einer Fensterscheibe bilden, kroch der Schmerz in Annes Körper. Wieder wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte und wieder löste eine Dämmerung die Dunkelheit in ihrem Geist ab. „Sie wird wach!“ hörte sie weit entfernt eine Frauenstimme sagen und ein seltsam surrendes Geräusch begann sie einzuhüllen. „Frau Kammermann, können Sie mich hören?“ Anne versuchte ihre Augen zu öffnen, doch die Helligkeit des Raumes blendete sie. „Schliessen sie die Vorhänge!“ hörte sie die Stimme an eine andere Person im Raum gerichtet. Das Licht in dem Raum war nun etwas gedämpfter und Anne öffnete vorsichtig ihre Augen. „Wo bin ich?“ fragte sie und die Stimme antwortete ihr: „Sie sind im städtischen Krankenhaus. Sie hatten einen schweren Unfall“. „Paps?“ brach es aus ihr heraus „was ist mit meinem Vater? Geht es ihm gut?“. Die Miene der Ärztin verschlechterte sich. „Ihr Vater ist ziemlich schwer verletzt. Er ist ausser Lebensgefahr, aber er liegt im Koma und ist bis jetzt noch nicht erwacht. Annes Magen zog sich zusammen und plötzlich fühlte sie wieder den Schmerz in Ihrem Körper. Wie lange sind wir schon hier? „Sie hatten unwahrscheinliches Glück, Frau Kammermann!“ sagte die Ärztin,  „Sie sind unverletzt! Sie haben lediglich eine schwere Gehirnerschütterung und ein paar oberflächliche Schrammen. Wir behalten Sie noch für ein paar Tage hier, aber Sie können bald wieder nach Hause“. „Wie lange?“ hackte an Anne nach? „Drei Tage.“ Antwortete die Ärztin. „Wird mein Vater durchkommen?“ frage Anne. „Wir gehen davon aus, dass er wieder ganz gesund wird, aber wir können nicht sagen, wann er aus dem Koma erwachen wird.“ Die Müdigkeit ergriff wieder Besitz von Anne und sie nickte schläfrig um der Ärztin zu signalisieren, dass Sie verstanden hatte.

„Ich möchte schlafen!“ sagte Anne. Die Ärztin nickte und stand auf. „Ruhen sie sich aus!“ sagte sie und ging aus dem Zimmer. Anne drehte sich um und schlief schnell wieder ein. Diesmal war es ein tiefer, traumloser Schlaf aus dem Anne erst wieder erwachte, als sich Sandra auf die Bettkante setzte und ihr sanft über die Haare strich.

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Fragmente 1.10 – Der Stein der Wahrheit

Fotocredit: Markus Schoepke

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.8 – Die Warnung / Fragmente 1.9 – Das Räsel

Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die Küche und sah sich um. Auf dem Küchentisch stand eine Tasse Tee und daneben lag ein Autoschlüssel. Die Tür, welche von der Küche her in den Keller führte, stand offen und Anne hörte von unten Geräusche die klangen, als sei jemand auf der Suche nach etwas. Sie hörte wie schwere Gegenstände umher gerückt wurden und das Rascheln von Papier. Anne blieb an der Tür stehen und lauschte weiter als plötzlich laute Schritte auf der Kellertreppe zu hören waren. Sie wurde von Panik gepackt, drehte sich um und wollte nur noch wegrennen. Als sie los spurten wollte, verhakte sich ihre Handtasche an der Klinke der Kellertür und Anne wurde durch die Tragschlaufe zurückgerissen. „Nein!“ entfuhr ihr ein erstickter Schrei. Ihr Herz erstarrte und nackte, kalte Angst liess ihr Blut gefrieren.

„Anne?!“ fragte eine ihr wohlbekannte Stimme „Was ist los mit Dir?“. Anne schaute sich um und ein Lachen befreite sie aus der unangenehmen Situation. „Paps!“ rief sie „ich dachte schon, jemand sei eingebrochen und hätte dir etwas angetan“ und umarmte ihren Vater stürmisch.  Er lachte und streichelte sanft über ihr Haar. „Anne, mir wird schon nichts geschehen! Beruhige Dich erstmal“ sagte er und goss eine zweite Tasse Tee ein. Sie setzten sich an den Küchentisch und Anne zeigte ihm das Foto von Raoul und erzählte ihrem Vater von ihrer Vermutung.

Ihr Vater war schnell überzeugt. So stiegen sie gemeinsam in den Keller um nach dem Buch zu suchen und fanden es auch in einer von Annes Kisten. Zurück am Küchentisch versuchten die beiden nun den Code zu entschlüsseln und tatsächlich ergab dass was sie zusammentrugen einen Sinn. Die entschlüsselte Botschaft lautete:

wir inv-nr siebenzwei – fünf – zweisieben

Aber was konnte damit gemeint sein? Anne dachte angestrengt nach. Sie betrachtete immer und immer wieder das Foto von Raoul und den Text auf der Rückseite. Der zweite Teil lautete:

Die Lösung des Rätsels wirst Du erkennen und verstehen
Forsche in gemeinsamen Erinnerungen – dann wirst es Du sehen!

Gemeinsam Erinnerungen – Was er damit wohl andeuten wollte? Plötzlich lachte ihr Vater laut heraus und die Luft in der Küche schien im Rhythmus seines Lachens zu vibrieren. „Was?“ fragte Anne „Hast Du etwas entdeckt?“ bohrte sie weiter. Triumphierend und liebevoll zugleich betrachtete Annes Vater seine Tochter und liess sich noch ein zweites Mal bitten. „Was? Sag schon!“ drängte sie ihn weiter. Er lächelte Anne verschwörerisch an und sagte: „Überleg‘ doch mal! Ihr habt zusammen die Verzollung von Fundgegenständen aus archäologischen Grabungen aus Peru abgewickelt. Die Gegenstände kamen danach in ein Museum. Und alle diese Gegenstände verfügen über eine Inventar Nummer!“. Anne überlegte kurz und murmelte dabei „Inv-Nr“ vor sich hin. „Natürlich! Dass musste es sein!“ jubelte nun auch sie und blickte ihren Vater neugierig an. Dieser stand auf und ging ins Wohnzimmer. Als er zurück kam hatte er einen Ausstellungskatalog des besagten Museums in der Hand. „Das werden wir gleich haben“ sagte er und die beiden begannen, die vielen Seiten nach der entsprechenden Inventar Nummer zu durchsuchen.

„Da!“ rief Anne begeistert „da ist es!“ und zeigte mit dem Finger auf ein Foto eines grauen, handgrossen Steines, auf dessen Oberfläche etwas eingraviert war. Ihr Vater kramte in der Brusttasche seines Hemdes und zog eine Lesebrille hervor, mit der er das Foto näher betrachtete. „Eine Karte“ murmelte er und versuchte mehr Details zu erkennen. Doch die Fotografie war zu wenig detailliert, als dass er alles hätte entziffern können. „Es muss eine Karte sein!“ sagte er erneut und Anne nickte begeistert! Plötzlich stach ihr eine Anzeige ins Auge, auf der man sah, dass es im Museum Duplikate des Steines als Souvenir zu kaufen gab. „Wir müssen da hin! Am besten gleich!“ brach es aus Anne heraus. Ihr Vater blickte sie an und nickte. „Genau das werden wir jetzt auch tun, ich muss sowieso noch in die Stadt um einzukaufen!“ bekräftigte er seine Tochter und sie verliessen gemeinsam die Küche.

Als Annes Vater das Tor der Garage öffnen wollte, merkte er erstaunt, dass diese schon offen war. Anne registrierte seinen nachdenklichen Blick, doch beide waren zu aufgeregt und zu nervös um sich Gedanken um das offene Garagentor zu machen. Annes Vater startete seinen Wagen und sie fuhren los. Während der Fahrt unterhielten sie sich über ihre Entdeckung und mutmassten, was dahinter stecken würde. Sie bemerkten nicht, dass ihr Wagen eine dunkle Spur auf dem Asphalt hinterliess und dass sie in höchster Gefahr schwebten. Sie verliessen den Ort und fuhren über Land, angeregt in ihr Gespräch vertieft. Der Weg führte über einen Hügelzug, über den sich die Strasse in vielen Kurven wand. Als sie den höchsten Punkt des Hügels überwunden hatten, bot sich ihnen ein schönes Panorama, dass sie aber beide in ihrem Gespräch vertieft nicht wahrnahmen. „Du bist etwas schnell, Paps“ rief Anne plötzlich, als ihr auffiel, dass ihr Vater mit steigender Geschwindigkeit auf die nächste Kurve zufuhr. „Brems!“ rief sie laut und ihr Vater stand mit aller Kraft auf dem Bremspedal. „Es funktioniert nicht! Die Bremsen funktionieren nicht!“ schrie er verzweifelt.

Annes Augen weiteten sich und plötzlich schien sich alles um sie herum nur noch in Zeitlupe zu bewegen. Sie blickte ihren Vater an, der hilflos versuchte die Bremse zu betätigen, blickte wieder nach vorn und sah, wie die Kurve und der Abgrund dahinter immer näher kamen. Immer langsamer bewegten sich die Bilder um sie herum, während tausend Gedanken in ihrem Kopf um Aufmerksamkeit buhlten. Sie klammerte sich an ihrem Sitz fest und bemerkte nur noch, wie der Wagen von der Strasse abhob.

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Fragmente 1.9 – Das Rätsel

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.8 – Die Warnung

Der Umschlag aus Peru mit dem Express-Aufkleber enthielt nur einen Gegenstand. Es war ein Foto, auf dem Raoul zu sehen war. Anne strich mit dem Zeigefinger sanft über das glänzende Papier und Sehnsucht überschwemmte ihr Herz. Nichts wünschte sie sich sehnlicher als Raoul endlich gegenüber zu stehen. Ihre Augen schweiften über das Foto und erkundeten jedes Detail. Das Bild wurde nicht in Peru aufgenommen, das erkannte sie sofort, denn Raoul stand vor einem Büchergeschäft an dessen Schaufenster Plakate mit deutschen Texten hingen. Er trug eine hellbraune Baumwollhose mit aufgesetzten Taschen, einen abgewetzten Ledergürtel und ein dunkelbraunes Hemd, dessen obere Knöpfe offen waren und eine kräftige und braun gebrannte Brust erahnen liessen. Scheine schwarzen Locken glänzten im Sonnenlicht und seine Augen leuchteten geheimnisvoll.

Als sie das Foto umdrehte, fand sie anstatt der erwarteten persönlichen Worte nur eine Reihe von Zahlen und vier Zeilen Text sowie einen Gruss und Raouls Unterschrift. Schnell wurde ihr klar, dass die erste Reihe von Ziffern eine Telefonnummer darstellte und sie kombinierte rasch, dass dies die Nummer von Raouls neuem Handy sein musste. Doch darunter fand sich eine merkwürdige Reihe von weiteren Zahlen und ein geheimnisvoller Text:

18/5 33/18 9/5

100/4 117/3 49/20-47/2 60/6

17/13 61/1 101/2 110/8 23/2 41/3 87/18 99/1 48/4 69/2 – 113/1 9/2 25/3 40/19 – 59/42 18/5 39/1 53/2 64/3 87/6 127/4 44/8 60/3 77/3

Die Offenbarung zeigt sich nur dem der hinter diese Zeilen blickt
Fern dem Herzen und nahe dem Verstand ist die Wahrheit versteckt
Die Lösung des Rätsels wirst Du erkennen und verstehen
Forsche in gemeinsamen Erinnerungen – dann wirst es Du sehen!

In Liebe Dein Raoul

Anne runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Was meinte er wohl damit und was sollten die Zahlen zu bedeuten haben? Sie hatte schon von vielen Codes und Verschlüsselungen gehört. Vielleicht handelte es sich hier um eine Buchverschlüsselung? Die Zahlenpaare führten sie auf die richtige Fährte. Vermutlich bezeichneten die Zahlen vor dem Schrägstrich die Zeilen- oder Seitennummer eines Textes oder eines Buches. Die zweite Zahl entsprach der Reihenfolge der Buchstaben. Dies war ein sehr sicheres Verschlüsselungsverfahren  und es war nicht zu knacken, wenn man das „Schlüssel-Buch“ nicht kannte! Doch welches konnte das besagte Buch sein? Anne dachte nach und las die Textzeilen unter dem Zahlencode immer wieder.

Die Offenbarung zeigt sich nur dem der hinter diese Zeilen blickt

Was wollte er wohl damit sagen? Was lag hinter diesen Zeilen? Anne versuchte sich zu konzentrieren und musste plötzlich lachen. „Natürlich!“ entwich es ihr und sie drehte das Foto um. Hinter den Zeilen lag das Bild auf der Rückseite! Sie betrachtete das Foto intensiv und versuchte zu erkennen, welche Bücher in der Auslage des Schaufensters lagen. Aber sie konnte die Titel nicht erkennen, sie waren zu klein. Anne las die zweite Textzeile auf der Rückseite des Fotos:

Fern dem Herzen und nahe dem Verstand ist die Wahrheit versteckt

Plötzlich hatte Anne die zündende Idee: Das Herzen war links im Körper, also musste die Lösung rechts von Raoul zu finden sein, fern dem Herzen. In der Nähe des Kopfes vielleicht, nahe dem Verstand? Sofort war ihr klar, um welches Buch es sich handeln musste! Denn rechts hinter Raouls Kopf hing ein Plakat an der Schaufensterscheibe mit einem Buchtitel, den sie kannte. Damals, als sie zusammen arbeiteten, hatten sie oft über Bücher gesprochen. Und bevor Raoul damals abreiste, hatte er ihr eine gebundene Ausgabe von Paulo Coelhos „Handbuch des Krieger des Lichts“ geschenkt.

Anne durchdrang plötzlich eine fieberhafte Nervosität. Welcher Hinweis steckte in dem Code, den Raoul ihr so übermittelt hatte? Welche Wahrheit würde sich ihr offenbaren? In was für ein Rätsel war sie hier geraten? Und wo zum Teufel, hatte sie Raouls Buch hingestellt? Dieser letzte Gedanke holte Anne zurück in die Realität. Sie musste das Buch finden! Sie hatte nur einige Kartons mit ihren Habseligkeiten mit zu Sandra genommen. Der Rest befand sich bei Ihrem Vater. Anne konnte nicht warten, sie musste das Buch so schnell wie möglich suchen um zu überprüfen, ob ihre Vermutung stimmte! Sie schnappte sich ihre Jacke und machte sich auf den Weg zu ihrem Vater.

Dort angekommen klingelte sie an der Haustür. Doch es antwortete niemand. Die Tür war nur angelehnt und Anne trat in das grosse Haus ein. „Paps, bist Du da?“ rief sie in den Flur und horchte gespannt. Doch es kam keine Antwort. Plötzlich kam ihr die Stille in dem Haus sehr unheimlich vor und ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie trat vorsichtig und angestrengt lauschend weiter in den Flur. „Pa-aps!“ rief sie nun lauter und auf Antwort hoffend. Doch wieder beantwortete niemand ihren Ruf.

Langsam eroberte die Angst Annes Gedanken und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie versuchte die dunklen Bilder beiseite zu schieben, die sich in ihren Kopf drängten. Doch mit jedem Schritt den sie sich weiter in den Flur hineinwagte, gewann die Panik mehr Macht über ihren Verstand und sie machte sich auf das Schlimmste gefasst! Sie riss sich zusammen und ging, zitternd vor Angst, weiter den Flur entlang.

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Fragmente 1.8 – Die Warnung

Photocredit: bluelemur

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Vor dem Fenster von Sandras Wohnung stand ein junger Mann. Seine Kleider waren blutgetränkt und seine Augen blickten glasig in eine imaginäre Ferne. Regungslos stand er da, während das Blut aus seinen Kleidern tropfte und kleine, rote Pfützen auf dem Boden bildete. Um seine aufgescheuerten Handgelenke waren Stücke einer Wäscheleine geschlungen und in seiner rechten Hand hielt er einen Fetzen Papier. Anne war vor Schreck gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, konnte sie den Blick nicht abwenden und ihr Gehirn weigerte sich zu verstehen, was ihre Augen sahen.

Nach einem Moment erkannte Anne, wer da vor ihrem Fenster stand. Das viele Blut, die gebückte Haltung und die leblosen Augen hatten das anfänglich verhindert. Annes Verstand versuchte vergeblich eine Erklärung für diese Situation zu finden, denn sie konnte nicht glauben, was sie da sah und doch formten ihre Lippen fast lautlos seinen Namen: „N-I-C-K“ hauchte Anne und konnte noch immer nicht akzeptieren, was sich hier vor ihren Augen abspielte. Ihre Starre löste sich „NICK!“ rief sie nun laut und rannte zur Haustür. Als sie draussen im Garten stand, war von Nick nichts mehr zu sehen. Nur die Blutspuren am Boden zeugten von der unheimlichen Begegnung. Als Anne näher ging, sah sie die blutigen Buchstaben an der Hauswand und was sie las, kam ihr unangenehm bekannt vor:

Anne lauf weg!

Ein eiskalter Schauer überzog Annes Rücken und die Angst kroch wie ein stinkender, sich ausbreitender Schimmelpilzbelag in ihrem Körper hoch bis unter die Kopfhaut. Sie konnte fühlen, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten und gerade als sie sich umdrehen und zurück ins Haus rennen wollte, fiel ihr etwas helles neben den Blutflecken am Boden auf. Sie bückte sich und erkannte, dass es ein Papierschnipsel war, den sie aufhob. Die Ränder sahen aus, als ob jemand das Papier mit den Zähnen abgerissen hätte. Sogar ein Zahnabdruck eines Eckzahns meinte Anne ausmachen zu können. Anne drehte das Papier um und nun packte sie die Panik. Auf der Rückseite stand in ihrer eigenen Handschrift

Lieber Nick

Der Rest des Textes war abgerissen. Auf einmal hatte Anne eine Vermutung. Nick hatte scheinbar ihren Abschiedsbrief heruntergeschluckt, damit er seinen Mördern nicht in die Hände kam. Zum ersten Mal fragte sich Anne, ob es ein Fehler war Nick zu verlassen. Bis zu seinem Tod hatte er sie beschützt. Und sie war einfach gegangen.

Plötzlich hörte Anne ein Geräusch hinter sich. Vor sich am Boden sah sie einen grossen Schatten von irgendetwas, das sich hinter ihr aufbäumte. Langsam drehte sich Anne um. „Aquila!“ Tränen flossen über ihre Wangen und im Augenblick eines Wimpernschlages fiel die ganze Angst und Anspannung von ihr ab. Sie lief auf ihren gefiederten Freund zu und vergrub ihr Gesicht in seinen glänzenden Brustfedern. Jetzt war ihr alles klar! Sie musste noch immer auf der Couch im Wohnzimmer liegen und Nicks Begegnung war Teil eines Traumes. Sie löste sich von Aquila und blickte zu ihm hoch. Ein zärtliches Lächeln verdrängte ihre angstvolle Mine und sie blinzelte in die Sonne, die hinter Aquila am Himmel stand. Er blickte sie an und in ihrem Kopf hörte sie die Auforderung aufzusteigen. Das wollte sich Anne nicht zweimal sagen lassen. Schnell kletterte sie auf den Rücken ihres gefiederten Freundes, der sofort abhob und mit ihr in den blauen Himmel tauchte.

Der Wind trocknete Annes Tränen und in ihren Gedanken bedankte sie sich bei Nick, der sich im Nachhinein doch ihrer Liebe würdig erwies. Aber auch Zweifel beschlichen Anne. Denn gleichzeitig hatte Nick auch erneut eine Warnung hinterlassen. Sollte sie einfach nach Peru fliegen? Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie Raoul finden konnte und wie sie ihm überhaupt helfen konnte. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Aquila wieder seinen stolzen Ruf erklingen liess. Abermals sah Anne von oben die Ebenen von Nazca mit den riesigen Felszeichnungen. Aquila flog immer tiefer und die Szenerie veränderte sich. Die flachen Felszeichnungen wurden plötzlich dreidimensional und aus den dünnen Linien wurden hohe, stabile Wände. Aquila steuerte eines dieser Zeichen an und flog tiefer um zwischen den hohen Mauern dieser Figur einzutauchen.

Aquila erwies sich als wahrer Flugkünstler und flog immer wieder scharfe Kurven, änderte plötzlich seine Richtung und flog sie so immer tiefer in ein steinernes Labyrinth. Nach ein paar Minuten bremste der Adler seinen Flug und landete. Als Anne abstieg, kam sie sich vor wie eine kleine Ameise, die in einer übergrossen Welt gefangen war. Rings um sie herum ragten hohe, glatte, steinerne Flächen dem Himmel entgegen. Es war unheimlich still und Anne traute sich kaum zu atmen. Als sie sich umblickte, sah sie plötzlich jemanden auf sich zukommen. Ihr Herz begann zu leuchten und ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht aus. „Raoul!“ rief sie und lief ihm entgegen. Doch einmal mehr sollte sie ihn nicht erreichen. Noch bevor sie Raoul in ihre Arme schliessen konnte, verblasste die Szenerie um sie herum und versank in einer stillen Dunkelheit. Anne schien in eine endlose Tiefe zu fallen um nach einem undefinierbar langen Moment auf der Couch zu landen, auf der sie in Sandras Haus eingeschlafen war.

Langsam kam sie zu sich und richtete sich auf. Anne streckte sich, rieb sich ihre Augen und versuchte zu verarbeiten, was sie eben geträumt hatte. Das Klingeln der Haustür weckte sie endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster auf ein gelbes Auto liess sie erkennen, dass es der Postbote sein musste. Sie stand auf und öffnete die Tür. Tatsächlich stand eine junge, freundliche Dame in Postgelb gekleidet vor der Tür und händigte ihr einen eingeschriebenen Brief aus, der an sie adressiert war. Neugierig kehrte sie mit dem Briefumschlag zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Die Briefmarke war fremdartig und auch der Poststempel schien auf einen Brief von weit her zu deuten.

Anne riss das Couvert auf und mit einem zärtlichen Lächeln betrachtete sie den Inhalt des Umschlages.

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