Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Anne und ihr Vater blickten einander erschrocken an. „Die Polizei!“ flüsterte sie ihrem Vater zu. „Bleib ganz ruhig, es wird sich sicher alles aufklären.“ Versuchte er sie zu beruhigen. Sandra führte die beiden Beamten in die Küche und bot ihnen einen Kaffee an. Inspektor Trost und sein Assistent nickten beide dankbar. „Bitte nehmen sie Platz.“ Sagte Sandra und goss zwei weitere Tassen ein. „Sie haben es ihrer Tochter schon erzählt?“ fragte der Beamte und schaute Annes Vater an. „Ja, sie weiss es“. Der Inspektor blickte zu Anne: „Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen 21 und 23 Uhr?“. Ihr Blut stockte in ihren Adern. Ein Zittern ergriff ihren Körper und Anne fühlte eine klirrende Kälte von ihren Füssen hochsteigen. Blitzschnell kombinierte sie und Panik begleitete die Erkenntnis, dass die Frage des Beamten nur eines bedeuten konnte: Sie wurde verdächtigt, Nick umgebracht zu haben!

„Ich war hier, bei meiner Freundin Sandra Zimmermann!“ antwortete Anne angstvoll. Sandra nickte und bestätigte Annes Aussage. Inspektor Trost bemerkte Annes Panik und versuchte sie zu beruhigen. Er erläuterte den Stand der Ermittlungen und erzählte was die Spurensicherung bis jetzt feststellen konnte. Der Fall schien recht merkwürdig. Am Tatort konnten keinerlei Spuren festgestellt werden. Einzig die Unordnung und die aufgeschlagenen Adressbücher und die Anzeige von Nicks Handy zeigte, dass die Täter scheinbar jemanden gesucht hatten. Kratzer an Nicks Handgelenken legten die Vermutung nahe, dass er an einen Stuhl gefesselt wurde und weitere Spuren an Nicks Körper zeigten darüber hinaus, dass er gefoltert wurde. „Wir vermuten, dass die Täter wollten, dass Nick den Aufenthaltsort einer ihm bekannten Person preisgibt. Anschliessend wurden ihm mehrere Stichwunden zugefügt. Er verblutete in kurzer Zeit am Tatort, ohne dass er Hilfe holen konnte.“ Anne wurde schlecht und sie kämpfte mit ihrem Magen.

Der Inspektor fuhr weiter “ Wir machen uns sorgen, dass die Mörder von Nick nach ihnen suchen! Denn warum hätte ihr ehemaliger Lebenspartner sonst diese Nachricht in seinem eigenen Blut hinterlassen sollen?“ Er machte eine kurze Pause. „Kannte er ihren jetzigen Aufenthaltsort?“ fragte der Inspektor weiter. Anne überlegte fieberhaft. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie erwähnt, dass Sie zu Sandra ginge. Da sich Nick aber nie für ihre Freunde interessierte, war sie ziemlich sicher, dass er nicht einmal wusste, wo Sandra wohnte. „Er wusste, dass ich bei meiner Freundin bin, aber ich glaube, er wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Es interessierte ihn nie besonders, wer meine Freunde waren.“ sagte Anne. „Das könnte nun ihr Glück sein!“ raunte Inspektor Trost und kontrollierte, ob sein Assistent auch alles korrekt protokolliert hatte. Nachdem die Beamten noch einige Fragen gestellt und angekündigt hatten, dass ab sofort ein Streifenwagen vor dem Haus von Sandra postiert würde, verabschiedeten sich die beiden Polizisten.

Sandra, Anne und ihr Vater sassen schweigend in der Küche. Nach einigen Minuten sagte Anne leise: „Es geht um Raoul! Es kann nur um Raoul gehen!“. Sie erzählte ihrem Vater von Raouls Anruf und dass sie sich Sorgen machte. Annes Vater hörte zu und sie sah ihm an, dass er mehr wusste, als er bis jetzt erzählte. Langsam kamen Anne auch die Bilder vom letzten Traum wieder in den Sinn und sie erzählte ihrem Vater auch davon. Nun kam plötzlich Leben in den älteren Herrn, der Anne liebevoll anblickte. Je mehr Anne erzählte umso grösser wurden seine Augen. „Anne, was Du da geträumt hast, ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt!“ sagte er und begann zu erzählen. Anne dachte bis jetzt immer, sie hätte ihren Vater so gut gekannt, wie ein Kind seinen Vater nur kennen könnte. Aber nun wurde ihr klar, dass dies ein Irrtum war.

Er erzählte ihr davon, dass in letzter Zeit immer mehr Hinweise gefunden wurden, dass Amerika schon lange vor Columbus entdeckt wurde und es schon immer einen Austausch zwischen den verschiedenen Hochkulturen gab. Er erzählte von einer Gruppe von Forschern, die eine These entwickelt hatten, nach der die geistigen Führer, Schamanen, Weisen und Philosophen der alten Völker in Verbindung standen. Es gab sogar einige Wissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass es irgendwo auf der Erde eine antike Bibliothek mit dem Wissen der gesamten Menschheit geben müsse. Unter anderem seien dort auch Schriften aus der Bibliothek von Alexandria gelagert, welche gerettet wurden, bevor dieses riesige Archiv antiker Schriften dem Feuer zum Opfer viel.

Raouls Vater stiess vor einigen Jahren in Peru auf eine Höhle, in der er verschiedenste Schriften aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Völkern gefunden hatte, was ihn glauben liess, auf die besagte Menschheits Bibliothek gestossen zu sein. Anne hörte gebannt zu. Die Bilder ihres Traumes wirbelten wieder durch ihren Kopf. „Und was hat Raoul damit zu tun?“ fragte sie nach. „Raoul arbeitet bei seinem Vater im Team. Sie konnten in den letzten Jahren einige Schriftstücke bergen und identifizieren. Allerdings ist ein Grossteil der Höhle komplett eingestürzt und nicht mehr zugänglich. Für weitere Grabungen fehlte aber das Geld. Scheinbar hatte jemand davon erfahren, und versuchte nun, diese Höhle zu finden, was wir Wissenschaftler allerdings verhindern möchten. Dieses Erbe der Menschheit sollte nicht in die Hände eines einzelnen Staates fallen. Es soll bleiben wo es ist und erst, wenn die Menschheit soweit ist, sollte sie davon erfahren. Ich bin in einer Gruppe von Forschern, die versuchen, wissenschaftliche Ergebnisse allen Menschen zugänglich zu machen. Nicht nur einige wenige sollen von den Erkenntnissen profitieren, sondern die gesamte Menschheit.“ Anne erinnerte sich an die Tätowierung auf dem Rücken ihres Vaters. Gerade als sie ihn danach fragen wollte, klingelte Annes Handy.

Als sie auf das Display blickte, stockte ihr Atem. „Es ist Raoul!“ rief sie und klappte ihr Telefon auf, um es an Ihr Ohr zu halten. „Raoul?“ fragte sie und fuhr weiter: „hier ist Anne!“ Aber sie hörte nur ein Rauschen und Klicken. Sie fragte nochmals und ihre Stimme klang sorgenvoll:

„Raoul? Bist Du das?“

Weiter mit Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fragmente 1.3 – Raoul

Tausend Bilder zogen an Anne vorbei, als sie auf dem Rücken des Adlers Richtung Südwesten flog. Unter sich sah sie grosse Gebiete mit bunten Feldern, die mit Strassen durchzogen waren. Ab und zu erschienen graue Strukturen von Städten die aussahen wie Krebsgeschwüre in der grün-gold-blauen Haut der Erde. Die Küste Portugals kam in Sichtweite und ganz in der Ferne konnte Sie sogar die Meerenge von Gibraltar erkennen. Als sie das Festland hinter sich liessen und über das offene Meer flogen, veränderte sich die Szenerie langsam.

Anne sah schwebende Inseln, auf denen Sie Menschen, Bauwerke und ganze Städte ausmachen konnte. Auf einigen Inseln waren, wie in einem Museum verschiedene Szenen mit Menschen dargestellt. Die meisten dieser Bilder zogen an ihr vorbei, ohne dass sie Einzelheiten oder gar den Sinn des Dargestellten erkennen konnte. Andere Sequenzen aber schienen sich zu ganzen Panoramen zu verbreitern und ermöglichten es ihr sogar Details zu erkennen. Eine dieser schwebenden Inselwelten faszinierte Anne besonders. Sie schien eine antike ägyptische Stadt zu beherbergen. Anne wies den Adler in Gedanken an, diese Stadt anzufliegen und als sie näher kamen, verlangsamte ihr fliegender Freund sein Tempo, damit Anne mehr erkennen konnte.

Annes Vater war Historiker und beschäftigte sich vorwiegend mit Papyriologie und Epigraphik alter Völker. So hatte sie in ihrer Kindheit sehr vieles über antike Kulturen erfahren und sich auch immer sehr dafür interessiert. Dies half ihr einzuordnen, was sie sah. Die Stadt, die sie nun anflog, besass eine vorgelagerte Insel, auf der sie einen grossen Turm ausmachen konnte. Anne war sich sicher, dass es sich um das antike Alexandrien handeln musste und sie wollte unbedingt mehr davon sehen. „Aquila“ rief sie ihrem Traumadler in Gedanken zu „lande hier!“ Bis jetzt hatte sie nicht darüber nachgedacht, ob ihr Adler einen Namen besass. Aber genau jetzt, in diesem Moment wusste sie, dass er Aquila hiess. Sie hatte jetzt keine Zeit länger darüber nachzudenken und sie beschloss, diesen Namen einfach als intuitiven Gedanken anzunehmen. Anne begann immer mehr zu begreifen, dass Intuition in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen würde.

Aquila und Anne landeten in der Nähe der Küste, im nordöstlichen Teil der Stadt. Schnell war Anne klar, dass sie sich hier in einem noblen Viertel befand, denn die Häuser und Strassen waren erstaunlich schön und massiv gebaut. Niedrige Gebäude wechselten sich mit freien Plätzen, Gärten und Palmenalleen ab. Die Sonne leuchtete hell und alles schien in goldenem Licht zu baden. Anne lief staunend eine dieser Prachtstrassen entlang und stand schliesslich vor einem grossen Gebäudekomplex. Dessen Architektur und Schönheit übertraf alles, was sich Anne damals in ihren kühnsten Kinderträumen vorgestellt hatte. Die Stirnseite bildete eine Art nach oben konisch zulaufendes „H“ dessen Stützpfeiler je ca. 40% der Vorderseite einnahmen. Im schmalen Teil dazwischen ruhte ein grosses Tor. Anne suchte in ihren Erinnerungen nach Ideen, um was für ein Gebäude es sich handeln konnte.

Eine bekannte Stimme hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken: „Was tust Du hier mein Kind?“ Sie schaute sich erschrocken um und erblickte zu ihrem grossen Erstaunen ihren eigenen Vater, der in für diese Zeit üblicher Bekleidung vor ihr stand und sie milde anlächelte. „Paps? Was tust Du denn hier?“ Der freudige Ausdruck im Gesicht ihres Vaters wich langsam einer besorgten Mine und er hob eine Hand um Anne eine Strähne ihres dunklen, langen Haares aus der Stirn zu streichen. „Ich rette, was zu retten ist!“ Sagte er. Ihr fielen ein paar Papyrus Rollen unter seinem linken Arm auf und wollte weitere Fragen stellen, doch ihr Vater fuhr weiter: „Bald wird die Bibliothek von Alexandrien zerstört werden und wir bringen alles in Sicherheit. An einen Ort, den niemals jemand finden sollte! Keine Macht der Welt soll je über all das gesammelte Wissen der antiken Zeit verfügen. Erst wenn das Wissen allen Menschen zur Verfügung gestellt werden kann, ohne den Einfluss von machthungrigen Staatsmännern und Regierungen, werden wir das Wissen mit der gesamten Menschheit teilen!“ Anne erkannte auf einer der Papyrusrollen ein Symbol, dass ihr schon als Kind aufgefallen war. Es waren zwei ausgebreitete Arme die sie als kleine Tätowierung zwischen den Schulterblättern von ihrem Vater gesehen hatte.

Anne versuchte herauszufinden, was hier eigentlich los war und hatte schon eine Frage an ihren Vater auf ihren Lippen als plötzlich, mit einem quietschenden Geräusch, ein Auto um die Ecke bog. Männer feuerten aus geöffneten Fenstern mit Maschinenpistolen auf sie. Anne und ihr Vater flohen durch das Tor in das grosse Gebäude. „Du musst gehen! Sprich mit mir, wenn Du von Deiner Reise zurückgekehrt bist!“ In Anne’s Kopf wirbelten die Gedanken wie Blätter in einem herbstlichen Sturm. Was hatte das alles zu bedeuten? Ihr Vater im alten Ägypten als Retter von antiken Büchern? Autos und Maschinengewehrfeuer? Vor fast 2000 Jahren? Anne rannte zu Aquila zurück an den Hafen und stieg, völlig ausser Atem, auf dessen Rücken. Mit kräftigen Flügelschlägen erhob er sich mit Anne in die Luft und die Szene unter ihnen wurde kleiner und kleiner. Die schwebende Insel mit der antiken Stadt Alexandria verschwand langsam im Dunst der Ferne während Annes Gedanken durch ihren Kopf tobten.

Langsam wurde Ihr bewusst, dass sie sich in einem Traum befand. Dies fühlte sich seltsam an für sie, denn alles schien ihr so intensiv und real. Und in ihr wuchs die Überzeugung, dass ihr in dieser Traumreise etwas mitgeteilt werden sollte, dass für ihr weiteres Leben eine wichtige Bedeutung haben sollte. Aquila trug Anne immer weiter und sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ihr gefiederter Freund plötzlich einen schrillen Schrei ausstiess. Anne blickte nach unten und sofort wusste sie, wo sie sich befanden. Unter ihnen erstreckte sich eine weite Ebene, auf der sie riesige Symbole erkannte. „Wir sind in Peru! Das sind die Ebenen von Nazca!“ rief Anne laut aus.

Unten auf der Ebene stand jemand. Die Person war noch zu weit entfernt als dass Anne sie hätte erkennen können. Doch schnell kamen sie näher und ein Lächeln ergriff Besitz von Annes Gesicht. Raoul stand dort unten und winkte ihr schon von weitem zu. Er erwiderte ihr Lächeln und Annes Herz beschleunigte seinen Rhythmus während sie vom Rücken von Aquila stieg um Raoul entgegen zu eilen. Sie sah auch ihn auf sich zulaufen und in seiner linken Hand erkannte sie eine der Papyrusrollen, die sie schon bei Ihrem Vater gesehen hatte. Es kam ihr merkwürdig vor, doch im Moment wollte sie nichts anderes, als Raoul endlich wieder in seine wunderschönen Augen zu blicken. Doch mit jedem Schritt, den sie auf ihn zuging, schien er sich weiter zu entfernen und die Szene wurde immer blasser.

Anne wurde schwindlig und plötzlich umfing sie eine bilderlose Dunkelheit. Sie fiel in ein schwarzes Loch, das kein Ende zu nehmen schien. Aus weiter Entfernung hörte sie eine Stimme an ihr Ohr dringen „Anne!“. Sie wehrte sich gegen das Aufwachen, wollte zurück auf die Nazca-Ebene zu Raoul. „Anne, wach auf, schnell!“. Ihr Kopf pochte, ihr ganzer Körper war angespannt und sie fühlte sich, als hätte sie einen handfesten Kater. Wieder vernahm sie die quälende Stimme: „Anne! Bitte wach endlich auf!“ Sie atmete tief ein und lies die Luft langsam aus ihrem Körper entweichen. Dann schlug sie die Augen auf und erkannte das Gesicht von Sandra vor sich.

Sandra sah besorgt aus. In ihrer rechten Hand hielt sie ein schnurloses Telefon. „Anne, dein Vater hat gerade angerufen. Du sollst Dich unbedingt sofort bei Ihm melden! Es muss etwas passiert sein, denn er klang sehr besorgt und aufgeregt!“

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