Fragmente 1.8 – Die Warnung

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Vor dem Fenster von Sandras Wohnung stand ein junger Mann. Seine Kleider waren blutgetränkt und seine Augen blickten glasig in eine imaginäre Ferne. Regungslos stand er da, während das Blut aus seinen Kleidern tropfte und kleine, rote Pfützen auf dem Boden bildete. Um seine aufgescheuerten Handgelenke waren Stücke einer Wäscheleine geschlungen und in seiner rechten Hand hielt er einen Fetzen Papier. Anne war vor Schreck gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, konnte sie den Blick nicht abwenden und ihr Gehirn weigerte sich zu verstehen, was ihre Augen sahen.

Nach einem Moment erkannte Anne, wer da vor ihrem Fenster stand. Das viele Blut, die gebückte Haltung und die leblosen Augen hatten das anfänglich verhindert. Annes Verstand versuchte vergeblich eine Erklärung für diese Situation zu finden, denn sie konnte nicht glauben, was sie da sah und doch formten ihre Lippen fast lautlos seinen Namen: „N-I-C-K“ hauchte Anne und konnte noch immer nicht akzeptieren, was sich hier vor ihren Augen abspielte. Ihre Starre löste sich „NICK!“ rief sie nun laut und rannte zur Haustür. Als sie draussen im Garten stand, war von Nick nichts mehr zu sehen. Nur die Blutspuren am Boden zeugten von der unheimlichen Begegnung. Als Anne näher ging, sah sie die blutigen Buchstaben an der Hauswand und was sie las, kam ihr unangenehm bekannt vor:

Anne lauf weg!

Ein eiskalter Schauer überzog Annes Rücken und die Angst kroch wie ein stinkender, sich ausbreitender Schimmelpilzbelag in ihrem Körper hoch bis unter die Kopfhaut. Sie konnte fühlen, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten und gerade als sie sich umdrehen und zurück ins Haus rennen wollte, fiel ihr etwas helles neben den Blutflecken am Boden auf. Sie bückte sich und erkannte, dass es ein Papierschnipsel war, den sie aufhob. Die Ränder sahen aus, als ob jemand das Papier mit den Zähnen abgerissen hätte. Sogar ein Zahnabdruck eines Eckzahns meinte Anne ausmachen zu können. Anne drehte das Papier um und nun packte sie die Panik. Auf der Rückseite stand in ihrer eigenen Handschrift

Lieber Nick

Der Rest des Textes war abgerissen. Auf einmal hatte Anne eine Vermutung. Nick hatte scheinbar ihren Abschiedsbrief heruntergeschluckt, damit er seinen Mördern nicht in die Hände kam. Zum ersten Mal fragte sich Anne, ob es ein Fehler war Nick zu verlassen. Bis zu seinem Tod hatte er sie beschützt. Und sie war einfach gegangen.

Plötzlich hörte Anne ein Geräusch hinter sich. Vor sich am Boden sah sie einen grossen Schatten von irgendetwas, das sich hinter ihr aufbäumte. Langsam drehte sich Anne um. „Aquila!“ Tränen flossen über ihre Wangen und im Augenblick eines Wimpernschlages fiel die ganze Angst und Anspannung von ihr ab. Sie lief auf ihren gefiederten Freund zu und vergrub ihr Gesicht in seinen glänzenden Brustfedern. Jetzt war ihr alles klar! Sie musste noch immer auf der Couch im Wohnzimmer liegen und Nicks Begegnung war Teil eines Traumes. Sie löste sich von Aquila und blickte zu ihm hoch. Ein zärtliches Lächeln verdrängte ihre angstvolle Mine und sie blinzelte in die Sonne, die hinter Aquila am Himmel stand. Er blickte sie an und in ihrem Kopf hörte sie die Auforderung aufzusteigen. Das wollte sich Anne nicht zweimal sagen lassen. Schnell kletterte sie auf den Rücken ihres gefiederten Freundes, der sofort abhob und mit ihr in den blauen Himmel tauchte.

Der Wind trocknete Annes Tränen und in ihren Gedanken bedankte sie sich bei Nick, der sich im Nachhinein doch ihrer Liebe würdig erwies. Aber auch Zweifel beschlichen Anne. Denn gleichzeitig hatte Nick auch erneut eine Warnung hinterlassen. Sollte sie einfach nach Peru fliegen? Doch sie hatte keine Ahnung, wo sie Raoul finden konnte und wie sie ihm überhaupt helfen konnte. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Aquila wieder seinen stolzen Ruf erklingen liess. Abermals sah Anne von oben die Ebenen von Nazca mit den riesigen Felszeichnungen. Aquila flog immer tiefer und die Szenerie veränderte sich. Die flachen Felszeichnungen wurden plötzlich dreidimensional und aus den dünnen Linien wurden hohe, stabile Wände. Aquila steuerte eines dieser Zeichen an und flog tiefer um zwischen den hohen Mauern dieser Figur einzutauchen.

Aquila erwies sich als wahrer Flugkünstler und flog immer wieder scharfe Kurven, änderte plötzlich seine Richtung und flog sie so immer tiefer in ein steinernes Labyrinth. Nach ein paar Minuten bremste der Adler seinen Flug und landete. Als Anne abstieg, kam sie sich vor wie eine kleine Ameise, die in einer übergrossen Welt gefangen war. Rings um sie herum ragten hohe, glatte, steinerne Flächen dem Himmel entgegen. Es war unheimlich still und Anne traute sich kaum zu atmen. Als sie sich umblickte, sah sie plötzlich jemanden auf sich zukommen. Ihr Herz begann zu leuchten und ein Strahlen breitete sich über ihr Gesicht aus. „Raoul!“ rief sie und lief ihm entgegen. Doch einmal mehr sollte sie ihn nicht erreichen. Noch bevor sie Raoul in ihre Arme schliessen konnte, verblasste die Szenerie um sie herum und versank in einer stillen Dunkelheit. Anne schien in eine endlose Tiefe zu fallen um nach einem undefinierbar langen Moment auf der Couch zu landen, auf der sie in Sandras Haus eingeschlafen war.

Langsam kam sie zu sich und richtete sich auf. Anne streckte sich, rieb sich ihre Augen und versuchte zu verarbeiten, was sie eben geträumt hatte. Das Klingeln der Haustür weckte sie endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster auf ein gelbes Auto liess sie erkennen, dass es der Postbote sein musste. Sie stand auf und öffnete die Tür. Tatsächlich stand eine junge, freundliche Dame in Postgelb gekleidet vor der Tür und händigte ihr einen eingeschriebenen Brief aus, der an sie adressiert war. Neugierig kehrte sie mit dem Briefumschlag zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Die Briefmarke war fremdartig und auch der Poststempel schien auf einen Brief von weit her zu deuten.

Anne riss das Couvert auf und mit einem zärtlichen Lächeln betrachtete sie den Inhalt des Umschlages.

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Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

cave_peru

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Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Anne und ihr Vater blickten einander erschrocken an. „Die Polizei!“ flüsterte sie ihrem Vater zu. „Bleib ganz ruhig, es wird sich sicher alles aufklären.“ Versuchte er sie zu beruhigen. Sandra führte die beiden Beamten in die Küche und bot ihnen einen Kaffee an. Inspektor Trost und sein Assistent nickten beide dankbar. „Bitte nehmen sie Platz.“ Sagte Sandra und goss zwei weitere Tassen ein. „Sie haben es ihrer Tochter schon erzählt?“ fragte der Beamte und schaute Annes Vater an. „Ja, sie weiss es“. Der Inspektor blickte zu Anne: „Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen 21 und 23 Uhr?“. Ihr Blut stockte in ihren Adern. Ein Zittern ergriff ihren Körper und Anne fühlte eine klirrende Kälte von ihren Füssen hochsteigen. Blitzschnell kombinierte sie und Panik begleitete die Erkenntnis, dass die Frage des Beamten nur eines bedeuten konnte: Sie wurde verdächtigt, Nick umgebracht zu haben!

„Ich war hier, bei meiner Freundin Sandra Zimmermann!“ antwortete Anne angstvoll. Sandra nickte und bestätigte Annes Aussage. Inspektor Trost bemerkte Annes Panik und versuchte sie zu beruhigen. Er erläuterte den Stand der Ermittlungen und erzählte was die Spurensicherung bis jetzt feststellen konnte. Der Fall schien recht merkwürdig. Am Tatort konnten keinerlei Spuren festgestellt werden. Einzig die Unordnung und die aufgeschlagenen Adressbücher und die Anzeige von Nicks Handy zeigte, dass die Täter scheinbar jemanden gesucht hatten. Kratzer an Nicks Handgelenken legten die Vermutung nahe, dass er an einen Stuhl gefesselt wurde und weitere Spuren an Nicks Körper zeigten darüber hinaus, dass er gefoltert wurde. „Wir vermuten, dass die Täter wollten, dass Nick den Aufenthaltsort einer ihm bekannten Person preisgibt. Anschliessend wurden ihm mehrere Stichwunden zugefügt. Er verblutete in kurzer Zeit am Tatort, ohne dass er Hilfe holen konnte.“ Anne wurde schlecht und sie kämpfte mit ihrem Magen.

Der Inspektor fuhr weiter “ Wir machen uns sorgen, dass die Mörder von Nick nach ihnen suchen! Denn warum hätte ihr ehemaliger Lebenspartner sonst diese Nachricht in seinem eigenen Blut hinterlassen sollen?“ Er machte eine kurze Pause. „Kannte er ihren jetzigen Aufenthaltsort?“ fragte der Inspektor weiter. Anne überlegte fieberhaft. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie erwähnt, dass Sie zu Sandra ginge. Da sich Nick aber nie für ihre Freunde interessierte, war sie ziemlich sicher, dass er nicht einmal wusste, wo Sandra wohnte. „Er wusste, dass ich bei meiner Freundin bin, aber ich glaube, er wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Es interessierte ihn nie besonders, wer meine Freunde waren.“ sagte Anne. „Das könnte nun ihr Glück sein!“ raunte Inspektor Trost und kontrollierte, ob sein Assistent auch alles korrekt protokolliert hatte. Nachdem die Beamten noch einige Fragen gestellt und angekündigt hatten, dass ab sofort ein Streifenwagen vor dem Haus von Sandra postiert würde, verabschiedeten sich die beiden Polizisten.

Sandra, Anne und ihr Vater sassen schweigend in der Küche. Nach einigen Minuten sagte Anne leise: „Es geht um Raoul! Es kann nur um Raoul gehen!“. Sie erzählte ihrem Vater von Raouls Anruf und dass sie sich Sorgen machte. Annes Vater hörte zu und sie sah ihm an, dass er mehr wusste, als er bis jetzt erzählte. Langsam kamen Anne auch die Bilder vom letzten Traum wieder in den Sinn und sie erzählte ihrem Vater auch davon. Nun kam plötzlich Leben in den älteren Herrn, der Anne liebevoll anblickte. Je mehr Anne erzählte umso grösser wurden seine Augen. „Anne, was Du da geträumt hast, ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt!“ sagte er und begann zu erzählen. Anne dachte bis jetzt immer, sie hätte ihren Vater so gut gekannt, wie ein Kind seinen Vater nur kennen könnte. Aber nun wurde ihr klar, dass dies ein Irrtum war.

Er erzählte ihr davon, dass in letzter Zeit immer mehr Hinweise gefunden wurden, dass Amerika schon lange vor Columbus entdeckt wurde und es schon immer einen Austausch zwischen den verschiedenen Hochkulturen gab. Er erzählte von einer Gruppe von Forschern, die eine These entwickelt hatten, nach der die geistigen Führer, Schamanen, Weisen und Philosophen der alten Völker in Verbindung standen. Es gab sogar einige Wissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass es irgendwo auf der Erde eine antike Bibliothek mit dem Wissen der gesamten Menschheit geben müsse. Unter anderem seien dort auch Schriften aus der Bibliothek von Alexandria gelagert, welche gerettet wurden, bevor dieses riesige Archiv antiker Schriften dem Feuer zum Opfer viel.

Raouls Vater stiess vor einigen Jahren in Peru auf eine Höhle, in der er verschiedenste Schriften aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Völkern gefunden hatte, was ihn glauben liess, auf die besagte Menschheits Bibliothek gestossen zu sein. Anne hörte gebannt zu. Die Bilder ihres Traumes wirbelten wieder durch ihren Kopf. „Und was hat Raoul damit zu tun?“ fragte sie nach. „Raoul arbeitet bei seinem Vater im Team. Sie konnten in den letzten Jahren einige Schriftstücke bergen und identifizieren. Allerdings ist ein Grossteil der Höhle komplett eingestürzt und nicht mehr zugänglich. Für weitere Grabungen fehlte aber das Geld. Scheinbar hatte jemand davon erfahren, und versuchte nun, diese Höhle zu finden, was wir Wissenschaftler allerdings verhindern möchten. Dieses Erbe der Menschheit sollte nicht in die Hände eines einzelnen Staates fallen. Es soll bleiben wo es ist und erst, wenn die Menschheit soweit ist, sollte sie davon erfahren. Ich bin in einer Gruppe von Forschern, die versuchen, wissenschaftliche Ergebnisse allen Menschen zugänglich zu machen. Nicht nur einige wenige sollen von den Erkenntnissen profitieren, sondern die gesamte Menschheit.“ Anne erinnerte sich an die Tätowierung auf dem Rücken ihres Vaters. Gerade als sie ihn danach fragen wollte, klingelte Annes Handy.

Als sie auf das Display blickte, stockte ihr Atem. „Es ist Raoul!“ rief sie und klappte ihr Telefon auf, um es an Ihr Ohr zu halten. „Raoul?“ fragte sie und fuhr weiter: „hier ist Anne!“ Aber sie hörte nur ein Rauschen und Klicken. Sie fragte nochmals und ihre Stimme klang sorgenvoll:

„Raoul? Bist Du das?“

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Fragmente 1.5 – Gefahr droht

annelaufweg

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Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum

Anne versuchte Ordnung in ihren Kopf zu bringen. Der Traum von letzter Nacht hatte sie total verwirrt. Es fiel ihr schwer, wieder vollkommen zurück in die Realität zu finden. „Frühstück ist fertig!“ hörte sie Sandra von unten rufen. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee drang in ihre Nase und von draussen schlängelten sich Sonnenstrahlen durch das Fenster in das Zimmer. Anne schwang ihre Beine aus dem Bett um aufzustehen. Es knirschte seltsam unter ihren Fusssohlen. Sie schaute nach unten und staunte nicht schlecht, als sie ihre Füsse betrachtete. Sie waren voller Sand, als wäre sie erst von einem Strandspaziergang zurück gekehrt. Sand? Wie um alles in der Welt war das möglich?

Urplötzlich erinnerte sie sich an ihren gebrochenen Fingernagel, ein Ereignis aus ihrem Traum von vor zwei Tagen, das ebenfalls nach dem Aufwachen als Souvenier ihres nächtlichen Abenteuers zurückblieb. Sie überlegte, ob sie vielleicht nachtwandelte. So wären diese Phänomene leicht erklärbar. Die schmutzigen Füsse waren vielleicht das Ergebniss eines nächtlichen Spazierganges im Garten von Sandra. Anne schüttelte diese Gedanken ab, stand auf und zog sich eine Jeans und ein frisches T-Shirt über. „Ich komme!“ rief sie Sandra entgegen und ging nach unten in die gemütliche Wohnküche, wo Sandra gerade Rührei aus einer Bratpfanne in zwei Teller gabelte. Es roch herrlich! Frisches Brot, Kaffe und Rührei. Anne setzte sich dankbar an den Tisch und roch an der Rose, die einsam in einer schlanken Vase auf dem Tisch stand.

Während dem Frühstück erzählte sie Sandra von ihren nächtlichen Erlebnissen und ihre Freundin hörte ihr aufmerksam zu. Man konnte ihr ansehen, dass sie nicht recht wusste, ob sie darüber lachen oder ob es ihr unheimlich sein sollte. „Anne, irgendetwas läuft hier nicht so, wie es laufen sollte!“ Sandra blickte ihre Freundin aufmerksam an. „Ach was! Ich habe nur geträumt! Da ist nichts Ungewöhnliches dabei!“ versuchte Anne abzuwiegeln. Doch in ihrem Innern machte sich ein seltsam metallisches Gefühl breit. Irgendwie konnte sie fühlen, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es war. Sie spürte instinktiv, dass sich ihr Leben bald von Grund auf verändern würde. „Paps!“ sagte sie mit vollem Munde. „Ich muss Paps anrufen!“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, klingelte es an der Tür. Sandra stand auf ging den Hausflur entlang um nachzusehen, wer der frühe Besucher war. „Anne!“ hörte sie Annes Vater von draussen rufen. „Anne, bist Du da?“ Sandra öffnete die Haustür und lies Annes Vater herein. „Wo ist sie?“ fragte er Sandra ungeduldig. „In der Küche“ antwortete Sandra und führte den sichtlich aufgeregten Mann zu seiner Tochter. „Kaffee?“ fragte Sandra und Annes Vater nickte. „Danke! Den kann ich jetzt brauchen!“

„Paps, was ist los?“ fragte Anne und schaute ihren Vater neugierig an. „Die Polizei hat bei mir angerufen und nach Dir gefragt!“ „Die Polizei?“ Anne blickte ihren Vater ungläubig an. Sie dachte nach und forschte nach einem Grund. „Anne, Du musst jetzt stark sein.“ „Paps, nun sag schon, was ist passiert?“ Er überlegte einen Moment, dann fing er an zu erzählen, was sich abgespielt hatte. „Die Polizei rief mich gestern Abend an, weil…“ er zögerte. Dann brach es aus ihm heraus „Nick ist tot!“ Anne erstarrte, sie konnte nicht glauben was ihr Vater gerade gesagt hatte. „Nick ist …tot?“ „Hat er sich das Leben genommen? Bin ich schuld? Ich hätte nie gedacht dass er…“ aber Annes Vater unterbrach sie. „Ermordet! Er wurde umgebracht!“. Sandra prustete los. Vor Schreck hatte sie sich an ihrem Kaffee verschluckt. „Nick ermordet?“ Anne sass da, wie vom Donner gerührt. Ich habe der Polizei gesagt, dass sie Dich hier erreichen könnten. Sie werden sich wohl bald melden. „Anne, du bist in Gefahr!“ Anne schaute ihren Vater erschrocken an. „Nick hat während seinem Todeskampf mit einem Finger eine Nachricht in einer Blutlache hinterlassen. „Wie…aber…ich..“ Anne stammelte. „Was hat er geschrieben?“ Ihr Vater zitierte was ihm die Beamten erzählt hatten. Dort stand:

„Anne lauf weg“

Anne versuchte sich zu sammeln. Ihr Gefühl, dass sich ihr Leben verändern werde, wurde nun allzu schnell zur unumstösslichen Wahrheit. Sie hätte nur nie gedacht, dass dies in dieser Form geschehen würde. Warum wurde Nick ermordert? Wieso hatte er versucht sie zu warnen? Trachtete auch jemand nach ihrem Leben? Waren sie alle in Gefahr?
Annes Vater riss sie aus Ihren Gedanken. „Anne, ich muss Dir noch etwas sagen. Es geht um Raoul Ramirez!“ Annes Augen weiteten sich! „Raoul? Du kennst Raoul? Aber woher…“ ihr Vater unterbrach sie. „Ich habe ihm damals die Firma empfohlen, bei der Du gearbeitet hast. Und ich habe auch Deinen Chef gebeten, Dich mit dieser Aufgabe zu betreuen. Ich kenne Raoul durch meine Forschungsarbeiten. Er ist der Sohn eines befreundeten Wissenschaflters aus Peru. Er wollte sich morgen mit mir in Bern treffen. Aber ich habe von seiner Assistentin die Nachricht erhalten, dass Raoul vermisst würde. Er war nicht am Flughafen erschienen.“Anne schaute ihren Vater an. Einmal mehr versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und plötzlich war ihr klar, was zu tun war. „Ich werde nach Peru fliegen!“ Sie erinnerte sich an Ihren Traum und blitzartig war ihr klar, dass es nur diese Möglichkeit geben konnte.

Annes Vater wollte gerade widersprechen, als es abermals an der Tür klingelte. Sandra stand auf und öffnete. Anne hörte eine Männerstimme „Kriminalpolizei, Inspektor Trost. Sind sie Anne Kammermann?“

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Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit

Fotocredit: Office by Night von y entonces

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne

Fragmente 1.1 – Aufbruch

Anne vergass das Stück Torte in ihrem Mund, blickte verunsichert blinzelnd auf Ihr Mobiltelefon und versuchte zu überprüfen, ob die Buchstaben auf ihrem Handydisplay tatsächlich den Namen bildeten, den sie meinte gelesen zu haben. Konnte es möglich sein? Aber da stand es klar und deutlich: Raoul Ramirez Handy Privat

Sandra beobachtete verblüfft, wie Annes Augen plötzlich in undefinierbare Weiten blickten. Wer Augenmuster lesen konnte – und Sandra wusste um deren Bedeutung – erkannte unschwer, dass Anne Bilder und Eindrücke aus der Vergangenheit abrief. Im Bruchteil von Sekunden wurde Sandras Freundin überflutet von Gedankenfetzen und Eindrücken aus einer Region ihres Gehirnes, die seit Äonen von Augenblicken nicht mehr aktiv gewesen zu sein schien und nun förmlich explodierte. Bewegte Collagen aus verdrängten Bildern, Gesprächsfetzen, Gefühlen, Gerüchen und vielfältigen Sinneseindrücken brachen über sie herein.

Die Nacht im Büro der Importabteilung ihres damaligen Arbeitgebers. Stahlblaue, wunderschöne Augen. Schwarzes, kurz geschnittenes, lockiges Haar. Braungebrannte Haut. Ein Duftcoctail aus würzig-herbem Schweiss, Whiskey, süssen, kubanischen Cigarren vermischt mit schwindelerregenden Pheromonen tanzten in ihrer Nase. Sie hörte den sonoren, tiefen, warmen Klang von Raouls männlicher Stimme. Sie erhaschte einen Erinnerungsfetzen. Eine Situation in der er ihr eine Liste mit Gegenständen, die er importieren sollte, vorlas. Sie sah sich, wie sie völlig entrückt seine Lippen beobachtete, in seinen Augen ertrank und ihr Körper vor Verlangen in vibrierende Schwingungen versetzt wurde. „Hast Du alles?“ fragte die männliche, hypnotisierende Stimme. Sie sah sich nicken, obwohl ihr Verstand kein einziges Wort registiert hatte. „Anne“ eine Frauenstimme drang in ihren Tagtraum. „Anne!“. Sich von diesen Bildern zu trennen schmerzte sie fast. „Anne, willst Du nicht ran gehen?“

Sandra riss sie aus dem Sog der Erinnerungen zurück in die Realität. „Ich….ich….kann nicht!“ Anne war unfähig zu reagieren. Ein süsses Gift kroch durch ihre Venen und suchte sich seinen Weg zu ihrem Herzen. „Soll ich..?“ Sandra griff nach Anne’s Handy „Nein!“ Anne zog ihre Hand zurück, drückte sie mit ihrem Mobiltelefon darin an ihr Herz, das heftig klopfte. Der Klingelton verstummte. Nur noch der Hinweis auf den unbeantworteten Anruf blinkte auf dem Display.

Plötzlich erhellte ein glockengleiches, helles Lachen den Raum „Du hättest Dich sehen sollen, Anne!“ Sandra wischte sich eine Träne der Rührung von ihrer Wange. Anne blickte um sich. Sie musste sich erst einen Überblick verschaffen um sich wieder im Hier und Jetzt einzufinden. Sie hielt den Atem einen kurzen Moment lang an und mit einem befreienden Seufzer entliess sie die Luft aus ihren bebenden Lungen.

„Wer zum Teufel war das?“ frage Sandra sichtlich von unstillbarer Neugierde gepackt. „Das ist eine lange Geschichte“ begann Anne. „Vor einigen Jahren, ich war erst seit 18 Monaten mit Nick zusammen, bekam ich in der Firma einen Importauftrag zugeteilt. Ich sollte die Einfuhr von wertvollen, antiken Funden aus Südamerika abwickeln, die für ein hiesiges Museum bestimmt waren. Dabei lernte ich Raoul kennen, der für die Einfuhr der Gegenstände verantwortlich war. Gemeinsam mit Ihm sollte ich sämtliche Papiere erstellen und ihn bei der Verzollung und dem ganzen Behördenkram unterstützen.“

Sie erzählte Sandra die ganze Geschichte. Wie sie damals am Flughafen Mister Ramirez abholen sollte und einen älteren, eher langweiligen Herrn erwartet hatte. Anne war das, was man eine treue Seele nannte. Nie hätte sie sich vorstellen können dass sie sich, während sie in einer Beziehung war, in einen anderen Mann hätte verlieben können. Aber als sie damals Raoul zum ersten Mal sah, geschah das Unvorstellbare. Sie erzählte Sandra von den Nächten im Büro, als sie mit Raoul Listen durchging, auf Bestätigungen aus Peru wartetend mit ihm über Gott und die Welt sprach. Sie erinnerte sich an Details wie die feinen, schwarzen Haare an Raouls Armen, deren gegensätzlicher Verlauf an der Aussenseite seiner Unterarme eine schmale Linie bildete und wie sie fast den Verstand verlor bei dem Versuch, ihren Drang zu unterdrücken, diese Arme zu berühren. Wie sich ihre Augen immer wieder trafen und sich gegenseitig Blitze zusandten. Sie war damals überzeugt, dass auch er diese Gefühle teilte. Aber sie beide sprachen nicht aus, was ihre Herzen schrien. Sie erzählte Sandra, wie sie bittere Tränen vergoss, als Raoul wieder zurück flog und von dem heissen, leidenschaftlichen, unerwarteten Abschiedskuss, der Anne in tiefe Verzeiflung stürzte. Von den süssen, erotischen Träumen, die sie noch Wochen lang verfolgten und dem langsamen, schmerzhaften Verdrängungsprozess.

Sandra hörte gebannt zu. Vor ihrem inneren Auge konnte sie, wie beim Lesen eines guten Buches, Bilder entstehen sehen und ihr war, als könne sie Anne’s Erinnerungen berühren, Raouls Stimme hören und seinen Duft atmen. „Und? Was wirst Du tun? Rufst Du ihn zurück?“ Anne überlegte lange. Sehr lange. Doch dann fällte sie eine Entscheidung. Sie holte tief Luft: …

Weiter mit Fragmente 1.3 – Raoul