Fragmente 1.10 – Der Stein der Wahrheit

Fotocredit: Markus Schoepke

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit / Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

Fragmente 1.8 – Die Warnung / Fragmente 1.9 – Das Räsel

Auf Zehenspitzen schlich sie sich in die Küche und sah sich um. Auf dem Küchentisch stand eine Tasse Tee und daneben lag ein Autoschlüssel. Die Tür, welche von der Küche her in den Keller führte, stand offen und Anne hörte von unten Geräusche die klangen, als sei jemand auf der Suche nach etwas. Sie hörte wie schwere Gegenstände umher gerückt wurden und das Rascheln von Papier. Anne blieb an der Tür stehen und lauschte weiter als plötzlich laute Schritte auf der Kellertreppe zu hören waren. Sie wurde von Panik gepackt, drehte sich um und wollte nur noch wegrennen. Als sie los spurten wollte, verhakte sich ihre Handtasche an der Klinke der Kellertür und Anne wurde durch die Tragschlaufe zurückgerissen. „Nein!“ entfuhr ihr ein erstickter Schrei. Ihr Herz erstarrte und nackte, kalte Angst liess ihr Blut gefrieren.

„Anne?!“ fragte eine ihr wohlbekannte Stimme „Was ist los mit Dir?“. Anne schaute sich um und ein Lachen befreite sie aus der unangenehmen Situation. „Paps!“ rief sie „ich dachte schon, jemand sei eingebrochen und hätte dir etwas angetan“ und umarmte ihren Vater stürmisch.  Er lachte und streichelte sanft über ihr Haar. „Anne, mir wird schon nichts geschehen! Beruhige Dich erstmal“ sagte er und goss eine zweite Tasse Tee ein. Sie setzten sich an den Küchentisch und Anne zeigte ihm das Foto von Raoul und erzählte ihrem Vater von ihrer Vermutung.

Ihr Vater war schnell überzeugt. So stiegen sie gemeinsam in den Keller um nach dem Buch zu suchen und fanden es auch in einer von Annes Kisten. Zurück am Küchentisch versuchten die beiden nun den Code zu entschlüsseln und tatsächlich ergab dass was sie zusammentrugen einen Sinn. Die entschlüsselte Botschaft lautete:

wir inv-nr siebenzwei – fünf – zweisieben

Aber was konnte damit gemeint sein? Anne dachte angestrengt nach. Sie betrachtete immer und immer wieder das Foto von Raoul und den Text auf der Rückseite. Der zweite Teil lautete:

Die Lösung des Rätsels wirst Du erkennen und verstehen
Forsche in gemeinsamen Erinnerungen – dann wirst es Du sehen!

Gemeinsam Erinnerungen – Was er damit wohl andeuten wollte? Plötzlich lachte ihr Vater laut heraus und die Luft in der Küche schien im Rhythmus seines Lachens zu vibrieren. „Was?“ fragte Anne „Hast Du etwas entdeckt?“ bohrte sie weiter. Triumphierend und liebevoll zugleich betrachtete Annes Vater seine Tochter und liess sich noch ein zweites Mal bitten. „Was? Sag schon!“ drängte sie ihn weiter. Er lächelte Anne verschwörerisch an und sagte: „Überleg‘ doch mal! Ihr habt zusammen die Verzollung von Fundgegenständen aus archäologischen Grabungen aus Peru abgewickelt. Die Gegenstände kamen danach in ein Museum. Und alle diese Gegenstände verfügen über eine Inventar Nummer!“. Anne überlegte kurz und murmelte dabei „Inv-Nr“ vor sich hin. „Natürlich! Dass musste es sein!“ jubelte nun auch sie und blickte ihren Vater neugierig an. Dieser stand auf und ging ins Wohnzimmer. Als er zurück kam hatte er einen Ausstellungskatalog des besagten Museums in der Hand. „Das werden wir gleich haben“ sagte er und die beiden begannen, die vielen Seiten nach der entsprechenden Inventar Nummer zu durchsuchen.

„Da!“ rief Anne begeistert „da ist es!“ und zeigte mit dem Finger auf ein Foto eines grauen, handgrossen Steines, auf dessen Oberfläche etwas eingraviert war. Ihr Vater kramte in der Brusttasche seines Hemdes und zog eine Lesebrille hervor, mit der er das Foto näher betrachtete. „Eine Karte“ murmelte er und versuchte mehr Details zu erkennen. Doch die Fotografie war zu wenig detailliert, als dass er alles hätte entziffern können. „Es muss eine Karte sein!“ sagte er erneut und Anne nickte begeistert! Plötzlich stach ihr eine Anzeige ins Auge, auf der man sah, dass es im Museum Duplikate des Steines als Souvenir zu kaufen gab. „Wir müssen da hin! Am besten gleich!“ brach es aus Anne heraus. Ihr Vater blickte sie an und nickte. „Genau das werden wir jetzt auch tun, ich muss sowieso noch in die Stadt um einzukaufen!“ bekräftigte er seine Tochter und sie verliessen gemeinsam die Küche.

Als Annes Vater das Tor der Garage öffnen wollte, merkte er erstaunt, dass diese schon offen war. Anne registrierte seinen nachdenklichen Blick, doch beide waren zu aufgeregt und zu nervös um sich Gedanken um das offene Garagentor zu machen. Annes Vater startete seinen Wagen und sie fuhren los. Während der Fahrt unterhielten sie sich über ihre Entdeckung und mutmassten, was dahinter stecken würde. Sie bemerkten nicht, dass ihr Wagen eine dunkle Spur auf dem Asphalt hinterliess und dass sie in höchster Gefahr schwebten. Sie verliessen den Ort und fuhren über Land, angeregt in ihr Gespräch vertieft. Der Weg führte über einen Hügelzug, über den sich die Strasse in vielen Kurven wand. Als sie den höchsten Punkt des Hügels überwunden hatten, bot sich ihnen ein schönes Panorama, dass sie aber beide in ihrem Gespräch vertieft nicht wahrnahmen. „Du bist etwas schnell, Paps“ rief Anne plötzlich, als ihr auffiel, dass ihr Vater mit steigender Geschwindigkeit auf die nächste Kurve zufuhr. „Brems!“ rief sie laut und ihr Vater stand mit aller Kraft auf dem Bremspedal. „Es funktioniert nicht! Die Bremsen funktionieren nicht!“ schrie er verzweifelt.

Annes Augen weiteten sich und plötzlich schien sich alles um sie herum nur noch in Zeitlupe zu bewegen. Sie blickte ihren Vater an, der hilflos versuchte die Bremse zu betätigen, blickte wieder nach vorn und sah, wie die Kurve und der Abgrund dahinter immer näher kamen. Immer langsamer bewegten sich die Bilder um sie herum, während tausend Gedanken in ihrem Kopf um Aufmerksamkeit buhlten. Sie klammerte sich an ihrem Sitz fest und bemerkte nur noch, wie der Wagen von der Strasse abhob.

Weiter mit Fragmente 1.11 – Eine Aufgabe aus dem Traumland

Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

xb2345

Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

Es klickte abermals in der Leitung und das Rauschen verminderte sich plötzlich. „Anne? Hier ist Raoul!“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Ihr Vater und Sandra blickten sie voller Erwartung an. Sie nickte ihnen zu. „Raoul, ist alles in Ordnung bei Dir?“ fragte sie. „Ja, alles in Ordnung!“ antwortete er leise. Aber am Flüsterton und einem kaum wahrnehmbaren Vibrieren in seiner Stimme konnte sie erkennen, dass nichts in Ordnung war. „Wo bist Du?“ fragte sie. „Das will ich am Telefon nicht verraten, ich glaube nämlich, dass es abgehört wird!“ fuhr er weiter. Er erzählte Anne, dass er immer noch verfolgt würde und deshalb untergetaucht sei. „Ich kann niemandem trauen, deshalb werde ich mir ein neues Handy besorgen und Du, liebe Anne, solltest das gleiche tun!“ Anne überlegte fieberhaft und es wurde ihr schlagartig klar, dass sein Rat richtig war. Schliesslich wies der Mord an Nick klar genug darauf hin, dass auch sie hier in Gefahr sein könnte.

„Anne, ich brauche etwas von Dir, aber ich will am Telefon nicht darüber sprechen. Du wirst von mir eine verschlüsselte Nachricht erhalten. Ich bin überzeugt, dass Du das Rätsel lösen wirst. Dann wird Dir auch klar sein, worum es geht. Dein Vater wird Dir mehr darüber erzählen können. Frage ihn nach XB2345. Er wird wissen worum es geht!“ Anne brannten tausend Fragen auf der Zunge, aber Raoul verabschiedete sich sogleich wieder und versprach, sich wieder zu melden, sobald er ein neues Mobiltelefon besorgt hätte. „Dann werden wir reden können!“ fügte er hinzu und sagte „Anne, ich würde Dich so gerne sehen! Ich bin todtraurig, dass ich im Moment nicht zu Dir kommen kann. Aber es ist einfach zu gefährlich. Warte auf meinen nächsten Anruf!“ Es klickte wieder in der Leitung und bevor Anne etwas erwidern konnte, legte Raoul auf.

Sandra und Annes Vater blickten sie neugierig an. Das ganze Gespräch über hielt Sandra ihre Kaffeetasse vor ihren geöffneten Lippen um zu trinken, aber die Spannung hatte sie erstarren lassen. Mit einem leichten Kopfschütteln löste sie sich aus ihrer Stasis. „Und? Was hat Raoul gesagt?“ fragte sie und auch Annes Vater stand diese Frage ins Gesicht geschrieben. Anne erzählte, was sie von Raoul erfahren hatte. Als sie „XB2345“ erwähnte, weiteten sich die Augen von Annes Vater. „Die Falle!“ platzte es aus ihm heraus. „Was?…“ wollte Anne nachfragen, als er weiterfuhr: „Raouls Vater hatte damals Hinweise gefunden, die darauf hindeuteten, dass die Fundstelle eine falsche Spur sein könnte!“ Anne und Sandra drängten ihn weiter zu erzählen.

Annes Vater machte eine Pause und genoss die Aufmerksamkeit. „Es könnte sein, dass es zwei Bibliotheken gibt! Eine die relativ leicht zu finden war und die nur einige wenige, unbedeutende Schriftstücke enthielt. Genug um jemanden zu täuschen. Wir vermuteten, dass es sich beim Fund um eben diese falsche Fährte handelte, nur fanden wir keine weiteren Hinweise, die uns zur richtigen Bibliothek geführt hätten.“ Er erzählte weiter und berichtete, was es mit „XB2345“ auf sich hatte. Es war ein Codename, den sie dem Thema gaben, denn sie wollten nicht, dass die Theorie der zwei Bibliotheken bekannt wurde.

„Dass Raoul diesen Code erwähnte, könnte bedeuten, dass sie weitere Hinweise zur zweiten Bibliothek gefunden haben, oder vielleicht sogar die Bibliothek selbst!“ kombinierte Anne. Ihr Vater nickte. „Aber, was könnte Raoul von mir wollen? Wie könnte ich ihm wohl helfen?“ fragte Anne. Doch ihre Frage sollte noch eine Weile unbeantwortet bleiben.

Nachdem sich ihr Vater auf den Heimweg gemacht hatte und Sandra zum Einkaufen gefahren war, sass Anne noch lange in der Küche und dachte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Sie hatten viel Energie gekostet und Anne fühlte sich todmüde. Sie stand vom Tisch auf und räumte das Frühstücksgeschirr ab. Sie beschloss sich nochmals kurz hinzulegen, bevor sie sich ein neues Handy, mitsamt neuer Telefonnummer, besorgen wollte.

Als sie es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte, fielen ihre Augen schnell zu. Ihre Atemzüge wurden ruhiger, tiefer und langsamer und sie tauchte vertauensvoll ab in die liebevolle Dunkelheit des Schlafes. Doch plötzlich hörte Anne ein klopfendes Geräusch. Sie setzte sich auf und blickte zum Wohnzimmerfenster. Aber dort war niemand zu sehen. Sie stand auf und ging näher, um hinaus zu sehen. Blitzartig durchfuhr sie der Gedanke, dass sie vorsichtig sein musste. Hatten Nicks Mörder vielleicht doch schon herausgefunden wo sie sich aufhielt? Sie bewegte sich aus dem Sichtbereich und drückte sich mit dem Rücken zur Wand links neben den aufgezogenen Vorhang. Ihr Herz klopfte wild bis zum Hals, ihre Hände wurden feucht und Gedanken tobten durch ihren Kopf.

Vorsichtig versuchte Sie einen Blick zu erhaschen und sah einen Schatten. Ihr Blut gefror in ihren Adern. Sie fühlte wie die Panik Besitz von ihr ergriff und doch zwang sie sich, einen weiteren Blick zu riskieren.

Anne hielt ihren Atem an und schaute ein zweites Mal vorsichtig hinaus und was sie sah, liess den Boden unter ihren Füssen wanken.

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