Fragmente 1.22 – Flucht aus der Dunkelheit

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Original Photo von:  Jackson Lee

Was bisher geschah:

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Sie knieten neben dem leise atmenden Polizisten, dessen Blut aus der Platzwunde am Hinterkopf langsam auf den Boden des Lieferwagens rann. Draussen sprachen die anderen Beamten aufgeregt miteinander. Annes Verstand war aber viel zu sehr mit dem Mann, der vor ihr am Boden lag beschäftigt, als dass sie hätte verstehen können, was da besprochen wurde. „Ich muss ihm die Wunde verbinden, damit er nicht verblutet.“ flüsterte sie leise. Würde er sterben, würden sie zu Mördern und das war das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten. Anne kramte in ihrer Reisetasche und zog eine Reiseapotheke hinaus. Die wild durcheinander sprechenden Beamten vor der Tür des Transporters wurden plötzlich ruhig, als eine Stimme aus einem Funkgerät hörbar wurde. Doch Anne nahm das nicht zur Kenntniss. Sie goss Desinfektionsmittel auf die blutende Kopfwunde des Polizisten, der sich ohne wach zu werden wand und glucksende Laute von sich gab. Luis drückte einen weichen Schal aus seinem Rucksack auf dessen Mund, damit er sie nicht verriet.

Die Polizisten neben dem Lieferwagen zogen plötzlich ab und eine gespenstische Ruhe kehrte nun in der Tiefgarage ein. Anne presste eine sterile Kompresse auf die blutende Wunde und verband den Kopf des Verletzten. Sie legte ihm einen Druckverband an und hoffte, dass dies die Blutung stillen würde. Sie war voll konzentriert und hatte gar nicht mitbekommen, dass draussen vor ihrem Versteck Ruhe eingekehrt war und sie nun alleine waren. Das Klingeln von Luis Handy riss sie aus ihrer Konzentration. Pedro rief an und erklärte, wo sein Auto stünde und dass er mittlerweilen mit dem Gepäck dort angelangt sei.

„Wir müssen dafür sorgen, dass er in ein Krankenhaus kommt oder zumindest bald gefunden wird!“ sagte Anne zu Luis. Er nickte und schlug vor, den Verletzen in den Korridor zum Eingang der Tiefgarage zu legen, da er dort sicher bald gefunden würde. Anne willigte ein. Vorsichtig öffneten sie die Tür des Transporters und Luis streckte seinen Kopf hinaus. Es war niemand zu sehen. Die beiden stiegen aus und schleppten den schlaffen Körper des Mannes zum Eingang des Parkhauses. Die schmutzigen Leuchtstoffröhren der Tiefgarage tauchten die Szenerie in ein unheimliches Licht und plötzlich kam sich Anne total verlassen vor. Nein, sie war nicht alleine hier, sie hatte ja Luis gefunden. Aber die Tatsache als Verfolgte in einem fremden Land einen Polizisten niedergeschlagen und ernsthaft verletzt zu haben, gab ihr nicht eben ein gutes Gefühl. Luis schien ihre Gedanken zu erraten und sprach ihr Mut zu: „Du kannst nichts dafür, Anne! Du hast nichts verbrochen und hast Dich nur gewehrt! Wir haben uns gewehrt! Wir sind hier die Opfer, nicht die!“

„Los komm!“ drängte sie Luis, als sie den immer noch bewusstlosen Mann im Korridor abgelegt hatten. Sie beeilten sich wegzukommen und begaben sich zum Auto von Pedro, der bereits ungeduldig wartete. Nachdem das Handgepäck im Kofferraum des Autos verstaut war, stiegen sie zu Pedro ins Auto. Anne trug immer noch die Uniform einer Flugbereiterin und Luis sah in seinem Overall tatsächlich aus, wie ein Flughafenmitarbeiter.

Die Sonne empfing die drei mit brutaler Helligkeit, als sie den Schlund der Tiefgarage verliessen. Anne kam sich vor wie in einem billigen Roadmovie und fragte sich, ob das was hier geschah Wirklichkeit war oder ob sie einmal mehr plötzlich aus einem Traum erwachen würde. Doch es war grausame, staubige und kalte Realität. Pedro verlangsamte seinen Wagen. Bevor sie das Gelände verlassen konnten, mussten sie eine bewachte Schranke passieren. Luis wechselte ein paar Worte in Spanisch mit Pedro. „Keine Angst, er kennt die Sicherheitsbeamten hier. Sie werden uns sicher problemlos passieren lassen!“ versuchte Luis Anne zu beruhigen, die nun wieder sichtlich nervös wurde. „Blut!“ rief Luis plötzlich und zeigte auf Annes Jacke. Tatsächlich prangte ein grosser Blutflecken auf ihrem Oberteil, was sie beim Kontrollposten ganz sicher verraten würde. Schnell zog sie die Jacke aus. Zum Glück war ihre Bluse sauber geblieben.

Der Sicherheitsbeamte stoppte den Wagen und sprach aufgeregt mit Pedro. Anne schnappte auf, dass er Pedro von den beiden Ausländern erzählte, die fieberhaft gesucht wurden. Pedro lachte laut heraus und machte ein paar Bemerkungen über die lausige Arbeitsweise der Miliz und schloss damit, dass er dem Sicherheitsbeamten ein Kompliment für seine Aufmerksamkeit machte und anerkennend befand, dass die Securityguards des Flughafens da schon viel bessere Arbeit leisten würden. Der Beamte lachte zurück und fühlte sich offensichtlich geschmeichelt. Er winkte Pedro durch und öffnete die Schranke, während er den Dreien einen guten Tag wünschte.

Anne lies die Luft aus ihrern Lunge entweichen. Das ganze Gespräch über hatte sie den Atem angehalten, denn sie rechnete jeden Moment damit aufzufliegen. Doch Pedro hatte die Situation perfekt gemeistert. „Komplimente helfen immer!“ grinste er und fuhr Richtung Lima Stadt. „Ich bringe Euch zur Pension meiner Mutter!“ Sie wird euch für ein paar Tage unterbringen ohne Fragen zu stellen und ohne Euch an die Miliz zu verraten! Anne atmete erleichert auf und Luis versteinerte Miene löste sich langsam um einem müden Lächeln Platz zu machen. Anne schaute aus dem Fenster des Wagens und sah Häuser und Menschen an sich vorbei ziehen. Nun war sie endlich in Peru und eigentlich hatte sie damit gerechnet, vor Freude zu tanzen. Aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihr jeglichen Spass gründlich verdorben.

Ihre Gedanken schweiften ab nach Hause. Wie es wohl Sandra und ihrem Vater ginge? Plötzlich vermisste sie die Beiden schmerzlich und wünschte sich insgeheim wieder dahin zurück, wo alles angefangen hatte. Könnte sie nur das Rad der Zeit zurückdrehen, all diese Dinge ungeschehen machen und einfach wieder ihr ganz normales altes Leben leben! Ihr altes Leben? Langsam stiegen Bilder in ihr hoch. Die Beziehung mit Nick, die ihr jegliche Lebensfreude nahm, die unzähligen Bewerbungen, die fehlende Perspektive. Sie begann sich zu fragen, wer sie damals eigentlich war. Und irgendwie wollte ihr keine Antwort dazu in den Sinn kommen. Eigentlich, dachte sie, habe ich vorher gar nicht existiert. Anne erkannte, dass ihr altes Leben ein Gespinnst aus Kompromissen war und dass sie einfach  wie ein Roboter funktioniert hatte. Wäre sie nicht in dieses Abenteuer gestürzt, hätte sie Sandra nie so intensiv kennen gelernt, sie hätte ihren Vater nicht noch einmal von einer ganz neuen Seite erlebt, sie hätte nicht den Moment grosser Dankbarkeit nach dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit nach dem Unfall gefühlt. Sie hätte nicht in all den Momenten des Schreckens und der lebensbedrohlichen Erlebnissen gefühlt, dass sie tatsächlich am Leben war.

Leben! Dieses Wort erhielt nun eine ganz neue Bedeutung fernab von Sicherheit und Harmonie. Anne wurde bewusst, dass es die schmerzhaften Erfahrungen waren, die sie spüren liessen, dass sie nicht einfach eine Untote war, sondern dass sie wirklich existierte  und dass das nicht selbstverständlich war. Ihr wurde bewusst, wie wichtig es ist, den eigenen Weg zu gehen und darauf zu vertrauen, dass es besser war in Bewegung zu bleiben und dabei auch ein paar Blessuren und Gefahren zu risikieren. Ihr altes Leben war Stillstand, ein unsichtbares Dasein. Aber jetzt fühlte sie sich lebendiger als jemals zuvor,  obwohl sich eine bleierne Müdigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Sie konnte fühlen wie sie atmete, wie ihr Herz Blut durch ihren Organismus pumpte. Ihre Gedanken waren frei und just in diesem Augenblick eroberte erneut ein zufriedenes Lächeln ihr Gesicht. Ja, sie lebte! Und wie sie lebte! So weit weg von allem, das ihr Sicherheit gab und alles in geordneten Bahnen hielt, aber so nah bei sich selbst. Das erste Mal fühlte sie, was es wirklich bedeutete Anne zu sein. Und sie war glücklich damit, diese Anne sein zu dürfen, die all dies überstand und die trotzdem weiterging auf ihrem Weg.

Plötzlich war sie da! Die Freude, die sie erwartet hatte! Sie dachte an Raoul, an das Geheimnis der Biblothek und als sie Luis ansah, huschte auch über sein Gesicht ein müdes, tiefsinniges und ehrliches Lächeln.

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Fragmente 1.21 – Unerwartete Wendungen

parkingdeck

photocredit: Takashi Toyooka

Was bisher geschah:

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Anne blickte in die finster wirkenden Gesichter der bewaffneten Männer und überlegte fieberhaft wie sie aus dieser Situation entkommen konnten. Sie und Luis traten noch einen Schritt zurück und blickten sich nun gegenseitig an. „Was sollen wir tun?“ fragte Anne leise, doch Luis zückte nur mit den Schultern. Sie sah ihm an, dass auch er keinen Ausweg sah. Als ihr klar wurde, dass es diesmal kein Entrinnen gab, liess sie ihre Arme sinken und ergab sich ihrem Schicksal.

Plötzlich erklang hinter ihnen ein schnarrendes Geräusch. Eine Schiebetür öffnete sich und Anne spürte, wie eine kräftige Hand ihren Arm erfgriff und sie nach hinten zog. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass auch Luis nach hinten gezogen wurde. Mit aller Kraft riss Anne an ihrer Reisetasche, die mit ihrem Gewicht ihrer Rückwärtsbewegung zusätzlichen Schub gab und Anne stolperte rückwärts. Die Schiebetür schloss sich nur einige Zentimeter vor ihrem Gesicht. „Schnell! Folgt mir!“rief eine ihr unbekannte Stimme. „Hier entlang!“ der Mann zeigte nach rechts in einen Korridor der nach ein paar Metern an einer Treppe endete die nach unten führte. Ohne darüber nachzudenken packte Anne ihre Tasche, griff nach Luis Hand und die beiden spurteten zusammen mit dem Unbekannten los. Die paar Meter bis zur Treppe waren schnell überwunden und sie rannten hinunter.

Die Luft in diesem Kellerraum war ein paar Grad kühler und erleichterte ihnen das Atmen. „Schnell, schnell, hier hinein!“ rief der Mann, der sie aus der misslichen Lage oben bei der Gepäckabholung befreit hatte und öffnete eine unscheinbare Tür, die zu einem weiteren Korridor mit etlichen Eingängen zu anderen Räumen führte. Hastig rannten sie vorwärts, bis die Stimme des Retters wieder erklang: „Halt! Hier hinein!“. Doch Anne konnte keine Tür entdecken. Der Mann bückte sich und löste ein Lüftungsgitter aus der Wand. „Schnell, schnell!“ rief er und Anne warf erst ihre Tasche hinein um dann selbst durch die Öffnung zu klettern. Luis folgte ihr in dem er ihr erst seinen Rucksack durchreichte und dann selbst durch den Durchgang kletterte. Der Mann folgte ihnen und hebelte geschickt hinter sich das Metallgitter wieder in die Ausparung. „Psst! Seid ganz leise!“ flüsterte er und Anne und Luis wagten kaum zu atmen. Im Korridor aus dem sie geflüchtet waren erklangen nun die Schritte einiger Männer und das metallene klappern ihrer Waffen. Sie rannten durch den Korridor, an dem Gitter vorbei und nach ein paar Minuten schien der Spuk vorbei zu sein.

„¡Bienvenidos a Perú!“ flüsterte der unbekannte Retter und Luis begann leise zu lachen. „Pedro! Du bist ein Teufelskerl! Deine Rettung kam in letzter Sekunde!“. Pedro lachte leise zurück und die beiden Männer umarmten sich herzlich. „Pedro, das ist Anne, Anne das ist Pedro. Mein Freund, der hier am Flughafen arbeitet!“. Anne schüttelte Pedro die Hand. „Ich weiss nicht, was ich sagen soll! Danke!“ sagte sie und war sichtlich damit beschäftigt, die letzten Sekunden einzuordnen. „Wo sind wir hier?“ fragte sie. „Im Keller mit den Fundsachen und der nicht abgeholten Gepäckstücken.“ antwortete Pedro. Anne schaute sich um und fragte sich, ob sich auch ihr Koffer hier befand. Pedro errat ihre Gedanken und lächelte schelmisch. „Deinen Koffer wirst Du hier nicht finden Anne, der steht in meinem Büro, zusammen mit dem Gepäck von Luis“ triumphierte Pedro. Sie schaute ihn an und ihr Gehirn brauchte ein paar Sekunden um den Sinn seiner Worte zu verstehen. Doch dann lachte sie los und umarmte Pedro stürmisch. „Danke Pedro! Vielen Dank!“ rief Anne. „Psst! Nicht zu laut!“ raunte dieser und schaute zu dem Lüftungsgitter. Wieder erklangen die Geräusche von mehreren Männern, die nun in langsamerem Tempo in entgegengesetzter Richtung durch den Korridor schritten. Jede Tür zu den angrenzenden Räumen wurde aufgestossen um nach erfolgloser Suche wieder geschlossen zu werden.

„Wir können nicht hier bleiben!“ sagte Pedro „sicher werden sie den gesamten Flughafen durchsuchen. Früher oder später werden sie uns finden!“ Er erklärte Luis den Weg zur Tiefgarage für das Flughafenpersonal. „Ich hole Euer Gepäck und wir treffen uns dann dort in spätestens 15 Minuten.“ sagte Pedro. „Seid vorsichtig, dass ihr nicht doch erwischt werdet!“ „Aber, die werden uns doch sofort erkennen, wenn sie uns sehen!“ erwiederte Anne. Luis pflichtete Anne bei und war von der Idee nicht sonderlich begeistert. „Moment!“ nickte Pedro. Er ging in einen Nebenraum und kam mit einer Uniform einer Flugbegleiterin und einem Overall eines Reinigungsangestellten zurück.

Kurze Zeit später schlichen Anne und Luis einen unterirdischen Gang entlang. Ihre Körper standen unter Hochspannung. Jeder ihrer Schritte hinterliess ein Frösteln auf Annes Rücken und der Schweiss rann ihr in Bächen über den Körper. Sie mussten nur noch einen Korridor weiter, dann links durch eine Tür um in die Tiefgarage zu gelangen. Anne ging vorsichtig auf diesen Durchgang zu und erstarrte vor Schreck, als sich die Tür öffnete und eine Gruppe von 3 jungen Damen, in der gleichen Uniform die auch Anne trug, auf sie zukam. Anne versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und ging weiter. Auch die Nerven von Luis waren bis zum Zerreissen gespannt. Die drei Flugbegleiterinnen grüssten freundlich und Anne versuchte entspannt zu wirken und nickte mit einem erzwungenen Lächeln zurück. Nur noch ein paar Schritte, dann hatten sie Ihr Ziel erreicht.

Kaum hatten sie die Tür zur Tiefgarage geöffnet hörten sie hinter sich die Stimmen von Männern die sehr aufgeregt klangen. Offensichtlich waren nun einige Polizisten hinter ihnen und befragten gerade die drei Flugbegleiterinnen die ihnen vorher begegnet waren. Anne schnappte noch ein „No Señor, lo siento“ auf, als die kühle Luft der Garage sie umfing. Der Gestank von Diesel und Benzindämpfen vermischte sich mit dem Geschmack von Kerosin und Gummi. Anne rümpfte die Nase und zog Luis zu sich heran. „Wir sollten uns kurz hinter diesem Lieferwagen verstecken! Die Polizisten kommen sicher gleich in die Tiefgarage.“ Luis nickte und beide versteckten sich hinter einem dunklen Transporter. Keine Sekunde später flog die Tür auf. 5 Männer in Uniform durchschritten den Eingang, durch den auch Anne und Luis vorher kamen. Sie waren keine 10 Meter von ihnen entfernt und begannen nun mit ihrer Suche.

Anne und Luis hielten sich so still es nur irgendwie ging. Einer der Beamten kam immer näher auf sie zu, während die anderen sich verteilten und auf anderen Ebenen suchten. Der eine Polizist näherte sich nun dem Lieferwagen, hinter dem sich die beiden versteckt hielten und schaute durch das Seitenfenster in das innere des Wagens. Anne konnte seine Schritte hören und realisierte, dass er nun um den Wagen herumging. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, dann wurden sie entdeckt. Sie blickte sich zu Luis um und stellte mit Schrecken fest, dass dieser weg war. Er musste wohl vorne um die Front des Transporters geschlichen sein. Sie war alleine und verloren!

Anne stockte der Atem und es fühlte sich an als ob unsichtbare Hände ihr die Kehle zudrückten, als der Kopf des Polizisten hinter dem Lieferwagen erschien und sie anblickte. „¡hola ricura!“ grinste der Kerl schmierig und kam auf Anne zu. Sie war sich nicht sicher, ob er sie erkannt hatte oder ob er einfach die Situation ausnützen und einer vermeintlich eingeschüchterten Flugbegeiterin einen Schrecken einjagen wollte. „¿Que haces aquí mismo?“. Anne war sprachlos und brachte kein Wort hervor.  Sie blickte den Kerl ungläubig an während dieser Schritt um Schritt auf sie zukam. „!la mar de bonito!“ raunte dieser nun und stiess einen anerkennenden Pfiff aus. Er trat noch einen Schritt auf Anne zu und stand nun dicht vor ihr. Sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen und begann am ganzen Körper zu zittern. Der Mann beugte sich vor und berührte ihren Hals mit seiner Nase. Tief zog er die Luft ein und roch an Anne wie ein Raubtier, dass seine Beute beschnüffelte. „!bueno!“ raunte er und schaute Anne nun direkt in die Augen.

Anne war in höchster Alarmbereitschaft. Jeder Muskel war wie die Sehne eines Pfeilbogens, zum Abschuss bereit, gespannt. Sein Gesicht näherte sich Annes nun bis auf ein paar Milimeter, er spitzte seine Lippen und wollte Anne augenscheinlich küssen. Das war das Signal für sie. Ihre Sicherungen brannten durch! Ohne nachzudenken hob sie ihr Knie mit einer Wucht, die Knochen brechen würde, zwischen die Beine ihres Peinigers. Volltreffer! Er keuchte, klappte vornüber und streifte Annes Uniform. Eine übelriechende Spur aus Speichel und Schweiss hinterlassend schoss sein Kopf, Annes Oberkörper streifend, hinab. Anne nahm beide Hände und ballte sie zu einer einzigen grossen Faust und schlug mit aller Wucht in den Nacken des stinkenden Polizisten. Dieser taumelte nun zur Seite und schlug mit dem Kopf heftig an die Seite des Lieferwagens. „¡qué puta!“ Die Worte kamen leise, atemlos und gepresst aus seinem Mund und er warf Anne einen tödlichen Blick zu. Anne konnte gerade noch sehen, wie seine Hand zur Waffe griff, als ein dumpfer Knall die Augen des Polizisten leer werden liess. Seine Pupillen rollten nach oben und er fiel der Länge nach, nach vorne auf den Boden. Hinter ihm erblickte sie Luis mit einem runden, kurzen, blutbeschmierten Holzbalken in der Hand. „Luis! Du… “ Er fiel ihr ins Wort: „Schnell, wir müssen ihn verstecken!“

Anne rüttelte an der Tür des Lieferwagens. Er war nicht verschlossen. „Hilf mir! Raunte sie Luis zu. Wir verstecken ihn hier drin!“ Luis packte den Polizisten unter den Achseln, während Anne seine Beine nahm. Gemeinsam hievten sie den leblosen Körper in den Wagen. Plötzlich hörte Anne Stimmen. „Schnell, rein!“ flüsterte sie und stieg mit Luis in den Transporter zu dem bewusstlosen Polizisten. So leise es ging schlossen sie die Seitentür. Keine zwei Minuten später konnten sie die anderen bewaffneten Männer ganz in der Nähe des Wagens hören. „¡Sangre, aqui!” rief nun einer und die Polizisten versammelten sich neben dem Lieferwagen.

Anne und Luis erstarrten und hielten den Atem an.

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Fragmente 1.20 – Peru

Was bisher geschah:

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Luis blickte Anne erschrocken an. „Was ist mit dir passiert? Du bist augenblicklich bleich geworden und ich sehe Angst in deinem Gesicht!“ Sie schaute in seine Augen und am liebsten hätte sie ihm alles erzählt. „Der Kerl macht mir Angst!“. „Sollte er Dir etwas tun wollen, wird er es zuerst mit mir aufnehmen müssen!“ Luis lächelte Anne beruhigend an. „Keine Angst! Ich werde dich begleiten wenn wir gelandet sind.“ Anne lächelte zurück. Der Flug würde noch ein paar Stunden dauern, aber mit Luis an ihrer Seite würde sie sich doch noch etwas Schlaf gönnen können.

Anne schloss ihre Augen und versuchte sich zu entspannen. Langsam sank ihr Geist immer tiefer und tanzende Lichter wechselten sich ab mit wabbernden Schwaden bunten Feuers. Sie fiel immer tiefer und landete schliesslich im inneren eines dunklen Zimmers. Sie sah Raoul und einen anderen etwas jüngeren Mann im Schein einer fahlen Lampe an einem Tisch sitzen. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden besprachen, aber ihr fiel auf, dass der andere Raoul sehr ähnlich sah. Sie kam näher und Raoul hob seinen Kopf. „Anne!“ Er stand auf und nahm sie in die Arme. Sie war froh, dass er nicht wie sonst vor jeder Berührung plötzlich verschwand und ihr war klar, dass sie sich wieder in einem Traum befand. „Darf ich Dir meinen jüngeren Bruder vorstellen? Das ist Carlos. Carlos, das ist Anne, meine geliebte Anne von der ich Dir schon so viel erzählt habe.“ Carlos lächelte und streckte Anne seine Hand entgegen. Als sich ihre Hände zum Gruss berührten veränderte sich die Szenerie schlagartig. Das Zimmer um sie herum verschwand und sie standen nun auf einer weiten Ebene.

Anne lies Carlos Hand los und schaute Raoul erstaunt an. „Wo sind wir hier?“ Doch bevor Raoul antworten konnte, begann Carlos laut zu rufen „Hier sind wir!“ er winkte und sein Gesicht begann vor Freude zu strahlen. Anne sah, wie Carlos Augen plötzlich feucht glänzten und sich eine Freudenträne ihren Weg über seine Wange bahnte. Schnell putzte er sie mit seinem Handrücken weg und blickte kurz, leicht verschämt zu Anne und Raoul. Doch Raoul nickte nur und lächelte. Anne blickte in die Richtung in die auch Carlos blickte. Eine Gestalt löste sich aus dem Horizont und kam schnell näher. Ein junger Mann mit schwarzer Wuschelfrisur kam auf sie zugerannt und Carlos und er fielen sich in die Arme.

Anne sah gerührt zu und begriff, dass es sich um ein Wiedersehen von Liebenden handelte. Die beiden Männer umarmten sich fest und nach einem Moment legte Carlos seine beiden Hände zärtlich auf die Schultern des Anderen und sie schauten sich für einen Moment lang tief in ihre Augen. „Carlos!“ sagte der andere Mann und auch ihm rannen Freudentränen über das Gesicht. „Luis!“ entgegnete nun Raouls Bruder und die Lippen der beiden trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. „Luis?“ Anne konnte nicht genau definieren, welche Gefühle in ihr tanzten. „Luis?“ fragte sie noch einmal und der Angesprochene blickte sie freudig an. „Hallo Anne!“ sagte dieser und fügte hinzu: „Siehst Du, gemeinsam werden wir sie finden!“. Er löste sich von Carlos und trat zu ihr. Sie umarmten sich herzlich.

Plötzlich riss ein donnerndes Geräusch Anne aus der Wiedersehensfreude. Die sandige Ebene um sie herum löste sich plötzlich auf. Steine begannen in freien Fall überzugehen und auch alles andere um sie herum begann zu schweben und sie entfernte sich immer mehr. Die Szenerie ging in Dunkelheit über und Anne sank wieder in tiefen Schlaf.

„Anne! Wach auf!“ Luis stimme klang zärtlich und leise an ihr Ohr! „Wir sind in Turbulenzen geraten. Du musst Deinen Sitz aufrecht stellen und Dich anschnallen.“ Anne öffnete ihre Augen und setzte sich gerade hin. „Wie lange wird der Flug noch dauern?“ fragte sie. „Wir werden in etwa 2 Stunden landen!“ sagte er und lächelte Anne beruhigend an. Anne erwiederte Luis Lächeln und fügte hinzu „Dann können wir uns endlich auf die Suche nach unseren Geliebten machen!“ Sie beobachtete wie Luis darauf reagierte. Er schaute sie neugierig an. „Ich habe doch nur von einem Freund gesprochen, nicht von einem Geliebten“ erwiederte er etwas erstaunt. „Ich werde Dir alles erzählen!“ sagte Anne „Und ich bin sicher, dass wir Raoul und Carlos gemeinsam finden werden!“

Nun schaute Luis Anne total ungläubig an. Sein Mund stand offen und für ein paar Momente vergass er sogar zu blinzeln. „Mach Deinen Mund wieder zu!“ lachte Anne. „Woher weisst Du von Carlos? Was geht hier vor? Wer bist Du?“. Anne lächelte Luis an. „Also stimmt es? Du bist auf der Suche nach Carlos, Deinem Freund?“ Luis nickte ungläubig. „Du weisst dass er einen Bruder hat?“ Luis nickte abermals und Anne fuhr weiter „Sein Bruder heisst Raoul, nicht wahr?“ Luis bekam seinen Mund immer noch nicht zu und nickte wieder. „Raoul, der Bruder von Deinem Carlos, ist derjenige den ich suche!“.

Luis verstand die Welt nicht mehr. Er wollte wissen woher Anne dies alles wusste und wieso sie sich nicht schon von Anfang an zu erkennen gab. Anne erzählte von ihren Träumen, von Aquila und davon, dass sie seit ihrem ersten Traum vor ein paar Wochen immer wieder Hinweise darin bekam und sogar mit ihrem Vater, der im Koma lag, in Verbindung treten konnte. In Luis Ohren klang das alles sehr abenteuerlich und er wusste augenscheinlich noch nicht, ob er ihren Worten trauen wollte. „Das klingt alles sehr…naja….verwirrend!“ antwortete er ihr und Anne nickte. Auch für sie war es immer noch nicht selbstverständlich und unglaublich.

Sie bestellten noch einmal etwas zu trinken und Anne erzählte Luis die ganze Geschichte. Angefangen bei der Trennung von Nick bis zum Hier und Jetzt. Luis hörte sich alles an, nickte zwischendurch oder stellte eine Verständnisfrage. „Weisst Du, ich beschäftige mich schon längerer Zeit mit solchen Phänomenen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich möglich ist!“. Er erzählte Anne davon, dass auch er oft träume, aber dass es ihm oft nicht gelang das Geträumte zu verstehen oder einzuordnen. Er erzählte ihr auch, dass er öfters sogenannte „Deja-Vu’s“ habe und sich aber auch das nicht richtig erklären konnte. Auch als er Anne einsteigen sah, habe er das Gefühl gehabt, dies sei schon einmal geschehen und er sei Anne schon vorher begegnet. Daher hatte er sie auch angesprochen, was er sonst nicht so unbekümmert getan hätte.

Das Zeichen zum Anschnallen erklang plötzlich wieder und eine Stimme im Lautsprecher gab an, dass sich die Maschine im Landeanflug befand. Anne und Luis blickten einander verschworen an und lächelten sich zu. „Auf eine gemeinsame Suche in Peru!“ sagte sie und trank den letzten Schluck ihres Proseccos. Sie blickte dabei aus dem Fenster und der Flughafen mit seiner gewaltigen Start- und Landebahn welche die landwirtschaftliche Zone von der Stadt abtrennte, kam immer näher. Anne freute sich nun über die bevorstehenden Abenteuer. Fast hatte sie den Verfolger mit seinem Husten vergessen, dem sie schon im Haus ihres Vaters begegnet war. Das röchelnde, kehlige Rasseln seiner Bronchien holte sie wieder zurück in die Realität.

Sie wandte sich an Luis und erklärte ihm, dass sie irgendwie aus dem Flughafen entwischen mussten, ohne in die Hände ihrer Verfolger zu geraten, welche nun wüssten, wer sie sei. Sie erklärte Luis, dass sie unbedingt den Stein zu Raoul bringen müsse. Luis sah sie gelassen an. „Kein Problem, Anne!“ entgegnete er. Ich kenne jemanden der am Flughafen arbeitet. Er wird mich abholen und mit ihm werden wir unbemerkt flüchten können. Annes Nervosität blieb und sie blickte mit grosser Angst dem Moment des Aussteigens entgegen.

Die Reifen des Flugzeuges stöhnten quietschend als die Maschine aufsetzte und landete. Der Pilot manövrierte den Metallvogel zu den Terminals und endlich hielten sie an. Anne stand auf und holte ihre Reisetasche aus dem Kofferabteil. Auch Luis griff sich seinen Rucksack und setzte seine Sonnebrille auf. „Na dann sehen wir zu, dass wir hier unbeschadet weg kommen!“  Als sie die Maschine verliessen, fielen Anne bereits die bewaffneten Polizisten am Eingang zum Terminal auf. Sie machte Luis darauf aufmerksam und sie stiegen vorsichtig um sich blickend in den Bus, der sie vom Rollfeld zum Flughafengebäude bringen sollte. Der Bus näherte sich dem Schatten spendenden Vordach des Terminals und hielt an. Die Passagiere verliessen den Bus und auch Anne und Luis stiegen aus, um sich ihren Weg zur Gepäckausgabe zu bahnen.

Die Polizisten beobachteten sie und Anne konnte sehen, dass ihr hustender Verfolger zu ihnen hinging, etwas mit ihnen besprach und dabei mit dem Finger auf sie zeigte. Sie wurde zusehends nervöser und hoffte, dass ihr Koffer auf dem Förderband bald kam. Doch ihr Koffer kam nicht. Sie warteten bis am Schluss und als das Band abgestellt wurde, war Anne klar, dass sie ihren Koffer wohl vergessen konnte, was einer Katastrophe gleichkam, denn darin befand sich der Stein mit der Karte. Sie blickte zu Luis, der am Handy in Spanisch mit seinem Kollegen, der hier am Flughafen arbeitete, sprach. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Buchstäblich! Denn nun kamen die bewaffneten Polizisten auf sie zu. „Miss!“ rief nun einer und blickte sie dabei an. Anne wurde nervös und versuchte sich einen Fluchtweg zu suchen. Doch da war keiner. Die Beamten kamen von drei Seiten auf sie zu. „Miss Kammermann!“ rief nun der eine Polizist wieder. Nur noch ein paar Meter trennten Anne und Luis von den gefährlich wirkenden Männern in Uniform.

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Fragmente 1.19 – Über den Wolken

Photocredit: jot.punkt@flickr.com

Was bisher geschah:

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Anne schloss für einen Moment ihre Augen und tauchte in die Erinnerung an den Moment, als sie sich mit Sandra im geheimen Archiv ihres Vaters versteckt hatte. Der röchelnde, kehlige Husten drang durch das Büchergestell und verstärkte die unheimliche Stimmung in dem fensterlosen Raum. Ein neuer Hustenanfall des Passagiers riss sie zurück in die Gegenwart. Er war es, dessen war sie sich nun ganz sicher! Trotz der Panik, die sich in ihr breit machte, versuchte sie ruhig zu bleiben. Sie schätzte ihre Chancen ab, unerkannt zu bleiben. Der Kerl konnte sie höchstens von einem alten Foto her kennen und da sah sie ja noch komplett anders aus. Ihre langen, dunklen Haare von damals hatte sie einer blonden Kurzhaarfrisur geopfert und eine grosse Sonnenbrille verdeckte ihre Augen.

Sie versuchte sich weiter zu entspannen und als die Maschine ihre Reiseflughöhe erreicht hatte und bestellte Anne endlich ihren Prosecco. Sie wollte sich den Start in ihr Abenteuer nicht verderben lassen. Und was sollte ihr in diesem Flugzeug voller Menschen schon passieren können? Sie stellte die Rücklehne ihres Sitzes zurück und schmiegte sich in ihre Rückenlehne. Sie blickte aus dem Fenster und prostete in Gedanken Sandra zu, die nun irgendwo da unten wieder ihr geordnetes Leben aufnehmen konnte. Ob sie wohl auch an sie dachte, fragte sich Anne und nippte an ihrem quirlig perlenden Getränk. Sie kramte erneut ihren Reiseführer hervor und begann, sich mit ihrem bevorstehenden Aufenthalt in Peru auseinander zu setzen.

Was würde sie als erstes tun, wenn sie gelandet war? Wo würde sie wohnen und wie konnte sie herausfinden, wo sie Raoul treffen konnte? Ihre Gedanken drehten sich nun ganz um das, was vor ihr stand und langsam mischte sich unter die Vorfreude auch eine gehörige Portion Spannung. Was, wenn sie doch wieder erkannt würde? Musste auch sie damit rechnen in Peru verfolgt zu werden? Wie sollte sie sich dort verstecken, obwohl sie niemanden ausser Raoul dort kannte? Trotz ihrer Entschlossenheit wurde sie nun doch ein wenig unsicher. Wenigstens konnte sie nicht schlecht spanisch und würde sich so in dem fremden Land doch einigermassen verständigen können.

Ein erneutes Husten liess sie wieder aufblicken. Sie liess ihren Blick durch das Flugzeug schweifen. Die Passagiere waren ein bunt gemischte Gruppe. Sie entdeckte einzelne allein reisende Geschäftsleute im Anzug mit Aktenkoffer, etliche Individualtouristen die gut an ihrer Kleidung und ihrem abenteuerlichen Aussehen zu erkennen waren. Auch ein paar Familien mit Kindern konnte Anne entdecken. Aber immer wieder blieben Ihre Augen an dem Passagier auf dem Sitz zwei Reihen vor ihr hängen. Er sass ruhig auf seinem Platz und blätterte ein paar Dokumente durch, die er zuvor seiner Reisetasche entommen hatte. Plötzlich blickte er unverhofft über seine Schulter zurück und blickte Anne direkt in die Augen.

Sie erstarrte und der Schreck schnürrte ihre Kehle zu einem kleinen, engen Bündel zusammen. „Nichts anmerken lassen“ hallte es immer wieder durch ihren Kopf, der sich anfühlte, als wollte er gleich implodieren. Sie versuchte zu atmen, ihre Anspannung aufzulösen und möglichst unauffällig zu wirken. Zittrig machte sie es sich im Sitz noch bequemer und versenkte sich demonstrativ in ihren Reiseführer. Als sie ihre Augen nach ein paar Ewigkeiten, die doch nur ein paar Sekunden dauerten, wieder nach vorne richtete, blickte sie der hustende Passagier noch immer an. Ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht und Anne überlegte fieberhaft, was dieses Grinsen zu bedeuten hatte. Hatte er sie erkannt oder versuchte er nur höflich zu sein, nachdem Anne seinen Blick erwiedert hatte? Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch Anne konnte nicht deuten, was sich darin abspielte. Ihre Hände waren kalt und schweissnass. Ihr Herz raste und sie musste sich enorm anstrengen um nicht in totale Panik auszubrechen.

Fast wäre es ihr gelungen sich wieder zu beruhigen, als der Mann aufstand und im Gang zwischen den Sitzen auf sie zu kam. Er schaute sie weiterhin an und sprach sie in gebrochenem Deutsch an. Mit spanischem Akzent fragte er: „Wir sind uns doch schon irgendwo begegnet. Kennen wir uns nicht?“ Anne schüttelte den Kopf. „Sie müssen mich verwechseln! Ich habe sie noch nie gesehen!“. Er betrachtete sie skeptisch. „Ich hätte schwören können, dass sich unsere Wege schon einmal gekreuzt haben“ entgegnete er und schaute sie weiter durchdringend an. Anne versuchte ein freundliches Lächeln aufzusetzen. „Tut mir leid!“ sagte sie und drehte sich ab.

Ihr Körper war im Ausnahmezustand. Plötzlich wurde ihr die Enge des Flugzeuges bewusst. Hier gab es keinen Fluchtweg. Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Andererseits, Anne wägte ab, war sie hier nicht alleine mit ihm. Es waren soviele andere Menschen hier an Bord. Er könnte ihr nichts anhaben. Aber wenn sie in Peru aussteigen würde, wäre er bereits an ihren Fersen und da sie sich nicht auskannte, war er im Vorteil. In ihrem Kopf drehte es. Sie malte sich aus, wie sie in Peru landete  und er sie sogleich entführen würde. Sie hatte keine Chance! Sie brauchte einen Fluchtplan!

Er gab es scheinbar auf, sich weiter mit ihr unterhalten zu wollen und ging weiter den Gang entlang und verschwand in der Toilette. Anne sah sich um und versuchte, irgendwo einen verständnisvollen Blick zu erhaschen. Sie fühlte sich unglaublich alleine und hilflos. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und hätte fast lautstark losgebrüllt, als eine symphatische Männerstimme aus der hinteren Sitzreihe fragte: „Alles in Ordung mit Ihnen? Der Kerl war ja gerade ziemlich aufdringlich!“ Anne blickte nach hinten und sah in das Gesicht eines jungen Mannes. Er sah etwas abenteuerlich aus. Schwarzes wuscheliges Haar umrandete ein markantes Gesicht. Er trug einen kurz geschnittenen Vollbart. Seine Haut war braungebrannt und er steckte in einem nicht mehr ganz neu wirkenden T-Shirt und in einer braunen Workerpants mit aufgesetzten Taschen. Seine nackten Füsse steckten in Sandalen und um das rechte Handgelenkt schlangen sich mehrere geflochtene Freundschaftsbänder.

Anne fasste sofort Vertrauen zu diesem freundlichen Fremden und lachte ihn an. „Naja, ich bin froh dass er weg ist! Der Kerl kommt mir nicht gerade vertrauenserweckend vor!“. Der Fremde lachte verständnisvoll und streckte Anne seine Hand entgegen. „Ich heisse Luis!“ sagte er und Anne stellte sich ebenfalls vor. „Zum Wohl“ sagte Luis und prostete Anne mit seinem Bier zu. Sie lachte und prostete mit ihrem Prosecco zurück und war froh, sich nicht mehr so alleine zu fühlen. „Was tust du in Peru?“ fragte Luis. „Das ist eine lange Geschichte! Und du? Was machst Du in Peru?“ fragte Anne zurück und Luis begann von seiner Weltreise zu erzählen und davon, dass er in Peru einen Freund treffen wolle. Die ältere Dame neben Luis blickte immer wieder freundlich von ihm zu Anne und zurück und lächelte dabei verschwörerisch. „Möchten sie den Platz tauschen?“ richtete sie sich an Anne. „Gerne!“ erwiderte Anne erleichtert und die beiden Frauen tauschten Ihre Sitze.

Anne erzählte Luis nun, dass sie auf der Suche nach einem alten Freund sei, dessen Aufenthaltsort ihr nicht bekannt sei. Sie schwieg über die tatsächlichen Gründe ihres Fluges. Sie wusste ja nicht, ob sie Luis tatsächlich trauen konnte. So freundlich und symphatisch er auch wirkte, Anne blieb vorsichtig. Trotzdem fühlte sie sich nun sicherer. Sie war nicht mehr alleine und der andere Kerl würde sie nun hoffentlich in Ruhe lassen. Luis lachte und erzählte, dass auch er den Aufenthaltsort seines Freundes nicht kennen würde und bot an, die Suche gemeinsam aufzunehmen. Anne befand, dass diese keine schlechte Idee sei und lehnte sich nun sichtlich entspannter in ihrem Sitz zurück.

Ein Blick nach hinten zeigte ihr, dass der hustende Passagier die Toilette wieder verlassen hatte und zurück an seinen Platz ging. Als er an ihr vorbei kam, drehte er sich plötzlich um und blickte sie unvermittelt an. „Ich weiss nun wieder woher ich sie kenne!“ sagte er. Anne wich alle Luft aus ihren Lungen. „Wir sehen uns sicher bald wieder! Geniessen sie den Flug!

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