1.31 – Die Wendung

Photocredit: Bruno Girin @ flickr.com

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„Ich will den Schlüsselstein!“ rief der hustende Verfolger und zielte mit dem Lauf der Pistole auf Anne. Ein kaltes Gefühl der Angst und Wut kroch erneut in ihr hoch, doch diesmal wusste sie, dass sie mehr als Glück benötigte um aus dieser Situation zu entfliehen. Anne stellte sich unwissend. „Was für einen Schlüsselstein?“ fragte sie und versuchte dabei möglichst unschuldig zu wirken. „Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Geben sie mir den Stein oder ich knalle sie ab!“ rief er. Anne sah keinen anderen Ausweg und zog ihren Rucksack aus, um den Stein daraus hervor zu holen. Raoul, Carlos und Luis standen wie versteinert daneben und sahen Anne zu, wie sie zitternd in die Tasche griff. Sie zog den Stein hervor und hielt in hoch. „Nein, nicht den Kartenstein, ich habe selbst eine Replik davon. Ich will den Schlüsselstein! Die Platte, in die der Kartenstein eingefügt werden muss!“ rief der Mann und fuchtelte mit der Pistole. „Ich habe den Schlüsselstein nicht!“ rief Anne wahrheitsgemäss! „Sie nicht, aber er hat ihn!“ rief der Kerl und zeigte nun mit der Waffe auf Raoul. „Los, geben sie mir den Stein, aber etwas plötzlich. Oder soll ihre Freundin hier sterben?“ rief er und zielte wieder auf Anne.

„Raoul, nicht!“ rief Anne. Doch Raoul konnte nicht anders. Er sah keinen Ausweg und wollte sie auf keinen Fall in Gefahr bringen. Er zog seinen Rucksack aus um das Artefakt daraus hervor zu holen. Er wickelte die Steinplatte mit der Öffnung in Form des Kartensteins aus einem Stoff und hielt sie mit beiden Händen in die Luft.  „Werfen Sie mir den Stein herüber, los!“ schrie der Verfolger und fuchtelte wild mit der Knarre herum. „Halt, nein! Die Platte wird in Stücke brechen, wenn er sie wirft!“ rief Anne dazwischen. In ihr keimte eine verwegene Idee. „In Ordnung, legen Sie den Stein vor sich auf den Boden und treten Sie zwei Meter zurück!“ rief der Verfolger. „Los, mach schon!“ raunte Anne und zwinkerte Raoul verwegen zu. Er begriff sofort und legte den Stein vor sich auf den Boden und sie traten alle zwei Meter zurück. „Stehen bleiben! Wehe sie versuchen abzuhauen! Ich werde schiessen, wenn sie nicht gehorchen!“ rief der Hustende.

Die Vier warfen sich vielsagende Blicke zu. Auch Luis und Carlos hatten erkannt, was Anne im Schilde führte. Sie blickten gespannt auf den Mann mit der Waffe in der Hand, der nun auf sie zukam. Doch Annes Idee schien nicht zu funktionieren. Er ging ein, zwei, drei Schritte auf dem federnden Boden in ihre Richtung und nichts passierte. Anne beschlich wieder dieses lähmende Gefühl der Angst. Doch plötzlich krachte es. Das Geräusch von berstendem Holz und ein kehliger Schrei durchschnitten die dunkle Szenerie. Ein Schuss löste sich aus der Pistole, gefolgt von einer gespenstische Stille, die nur eine ewig lange Sekunde dauerte und die von einem widerlichen Krachen und einem erneuten Schrei, der in einem gurgelnden Laut erstarb, abgelöst wurde.

Raoul ging langsam zwei Schritte nach vorne und blickte in das tiefe, dunkle Loch, das nun vor ihnen klaffte. „Er ist tot!“ rief er. Die anderen kamen zu ihm und blickten in die Öffnung. Im Schein von Raouls Stirnlampe sahen sie den seltsam verbogenen Körper, der in etwa 10 Meter Tiefe auf spitzigen Holzpfählen aufgespiesst lag. Die Lampe des Toten lag auf dem Grund des Schachtes und tauchte das Bild in ein unheimliches Licht. „Los, schnell, lasst uns abhauen, wer weiss, ob er der einzige Verfolger war!“ rief nun Luis. Raoul packte den Schlüsselstein wieder ein und sie liefen zurück in den letzten Raum. Dort nahmen sie den anderen Weg und passierten die Kreuzung wie geplant.

Der Weg neigte sich nun spürbar nach oben und die frische Luft, die ihnen entgegen blies, zeigte an, dass sie bald am Ende ihres Aufstiegs ankommen würden. Doch der Tunnel endete ohne Ausgang. Die Decke schien eingestürzt zu sein. „Die Tür, die keine ist!“ flüsterte Anne und sie beschrieb Raoul, was sie in ihrem Traum gesehen hatte. Sie versuchten, in der Mitte beginnend, die kleineren Steine weg zu schieben und mit gemeinsamer Kraft schafften sie es auch, die letzten beiden Steinplatten aus dem Weg zu räumen. Das Bild, in das sie bei ihrem Ausstieg eintauchten, raubte ihnen fast den Atem. Der neue Tag war im Begriff die Ebene von Nazca in ein sanftes Licht zu tauchen und während der Himmel von Osten her immer heller wurde, stieg die Gruppe über eine Leiter, die schon seit Urzeiten dort zu sein schien, wieder zurück an die Oberfläche.

„Du hattest recht, Anne!“ sagte Raoul und nahm sie in seine Arme! „Deine Träume haben uns gerettet!“ fügte er an und die Vier setzten sich erst mal hin um eine kleine Verschnaufpause einzulegen. Über ihren Köpfen kreiste ein Adler und Anne dachte an Aquila. „Danke mein Freund!“ rief sie ihm im Geiste zu und prompt kam die Antwort in Form eines Gedanken zurück: „Bitte, aber Eure Reise ist noch nicht zu Ende! Findet die Bibliothek und sorgt dafür, dass sie geschützt bleibt!“. Der Gedanken hallte in Annes Kopf und ihr wurde klar, dass sie erst den ersten Teil des Abenteuers bestanden hatte.

„Wie kommen wir zurück zu Margaretha?“ fragte Anne plötzlich in die Runde. „Na mit unserem Auto!“ lachte Carlos. „Es steht unten auf der Rückseite des Hauses. Wir müssten etwa in 20 Minuten dort sein. Über der Erde ist die Strecke nur halb so lange!“ fügte er an und stand auf. „Los kommt!“ sagte er und ging los, während die anderen sich hinter ihm aufrafften um ebenfalls die Rückreise anzutreten.

Als sie im Auto sassen und auf dem Rückweg nach Lima waren, erzählte Raoul, was alles passiert war und wie sie den Schlüsselstein in einem der Räume da unten gefunden hätten. Anne erzählte, dass sie eine Idee hätte, wo die Bibliothek sein könnte. Dass sie davon geträumt hatte und Margaretha aufgrund ihrer Beschreibung ein Kultort der Lambayeque vermutete.

Carlos steuerte das Auto und hörte aufmerksam zu, während Luis auf dem Beifahrersitz eingenickt war. Immer wieder blickte Anne durch das Heckfenster des Wagens um sicher zu sein, dass sie nicht verfolgt würden. Aber da war nichts. Kein anderes Auto war hinter ihnen zu sehen und langsam konnte auch Anne sich entspannen. Sie legte ihren Kopf an Raouls Schultern, der seinerseits seinen Arm um sie legte und bald schlief sie ein. Sie versank in einer wohligen Dunkelheit und fühlte sich in Sicherheit. Ein Gefühl, dass sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte. Die Dunkelheit um sie herum löste sich auf und sie spürte den Wind in ihrem Gesicht. „Aquila!“ rief sie und Freundtränen kullerten über ihr Gesicht. Sie spürte die kräftigen Muskeln seiner Flügel unter ihrem Körper und blickte strahlend vor Freude auf die Landschaft unter ihr.

Sie verliessen die Ebenen von Nazca und steuerten Nordwärts. Anne entdeckte unter sich Lima und vermutete, dass sie bei Margaretha landen würde, doch Aquila gab ihr zu verstehen, dass die Reise weiter nordwärts gehen würde zu einem Ort namens Túcume. Nachdem sie Chiclayo unter sich passiert hatten, tauchte Aquila ab und landete an einem unwirklich scheinenden Ort. Es gab hier grosse Hügel, deren Beschaffenheit sonderbar geometrisch schienen und Anne kombinierte schnell, dass es sich hier um die Überreste der besagten Lambayeque Kultur handeln musste. Einige Ausgrabungsstätten zeugten ebenfalls davon. Aquila landete genau vor einem der Hügel und stieg ab. Sie sah sich um und bald entdeckte sie jemanden, der ihr sehr bekannt vorkam. Freude erfüllte ihr Herz und sie lief mit geöffneten Armen auf ihn zu. „Paps“! rief sie und der Mann winkte ihr zu. Er stand vor einem der lehmigen Hügel und freute sich sichtlich darauf, seine Tochter in die Arme zu nehmen! Doch einmal mehr schaffte es Anne nicht, einen geliebten Menschen im Traum zu umarmen. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, veränderte sich die Szenerie. Links neben ihm öffnete sich der Hügel und die entstehende Öffnung schien alles in sich hineinzuziehen. Auch Anne konnte sich nicht gegen den Sog wehren und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Weiter mit Fragmente 1.32 – Das Wiedersehen

1.30 – Das Labyrinth

Photocredit: Raveesh Vyas @ flickr.com

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Anne rannte los! Es schien, als ob sich in diesem Moment ein riesiger Stein von Ihrem Herzen löste. So leicht und unbelastet fühlte sich dieser Augenblick für sie an. Nur eine leichte Angst, alles um sie könne sich wieder auflösen und sie erwache aus einem Traum, mischte sich in ihre Freude. Der Namen der sich in ihrem Kopf ausbreitete blieb unausgesprochen, denn sie war so überwältigt, dass ihr Gehirn keine bewusste Kontrolle über ihren Körper zuliess. Instinktiv rannte sie, breitete ihre Arme aus und Tränen rannen über ihr Gesicht.

Sie realisierte nicht, dass es Luis neben ihr genau gleich erging. Auch er spurtete los von Gefühlen überwältigt, kein Wort über die Lippen bringend. Denn was sie hier unten gefunden hatten, war nicht vorherzusehen. Es kam so überraschend, dass Anne und Luis ihr Glück kaum fassen konnten. Hier tief unter der Erde, unter den Ebenen von Nazca trafen sie diejenigen wieder, die sie so lange vermisst und gesucht hatten. Die Sehnsucht nach diesem Wiedersehen trieb sie durch das ganze Abenteuer und war Motivation und Qual zugleich.

Raoul durchbrach die Stille als erster: „Anne…ich….wie seid ihr hierher gekommen?“. Anne löste sich zögerlich aus der Umarmung und begann zu erzählen. Raouls Augen folgten Annes Lippen und gestikulierenden Händen. Manchmal kniff er sie fragend zu kleinen Schlitzen zusammen, manchmal weiteten sie sich erschrocken. Auch Carlos hörte aufmerksam zu, während ebenfalls Luis seinen Teil der Geschichte beisteuerte. Anne schloss mit der Schilderung der Verfolgungsjagd und erzählte, wie ein unsteuerbares Gefühl sie zu diesem Haus geführt und sie durch die Luke im Boden diesen Raum gefunden hatten.

Raoul lächelte und sah Anne bewundernd an. Er nahm ihre Hände, küsste sie sanft und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du hast Dich verändert!“ sagte er leise. „Du warst eine junge Dame, als ich Dich verlassen musste. Nun bist Du eine starke Kämpferin geworden!“ flüsterte er und blickte sie bewundernd an. Anne lächelte verlegen. Sie löste ihren Blick von Raoul und blickte zu Luis und Carlos.

Die Stimmung im Raum hatte etwas total Unwirkliches und gerade als Annes Gedanken zu Aquila schweiften und sie sich erneut fragte, ob das hier die Wirklichkeit oder einer ihrer Träume sei, zerriss ein knarrendes Geräusch die Stille des kleinen Raumes. „Jemand ist im Haus!“ flüsterte Carlos erschrocken! Raoul blickte zu Anne und Luis: „Ich dachte, ihr hättet Eure Verfolger unschädlich gemacht?“ raunte er und Anne antwortete: „Das dachte ich auch! Aber wir sind einfach weiter gefahren und wissen nicht, wie es wirklich um sie stand!“. Raoul griff nach seinem Rucksack. „Schnell, wir müssen hier weg!“ flüsterte er. „Gibt es einen zweiten Ausgang?“ fragte Anne und Raoul nickte „Ja, den gibt es. Von hier aus führt ein langer unterirdischer Gang zu den Ebenen von Nazca. Er ist uralt und stammt aus prä-hispanischen Zeiten. Um ehrlich zu sein, ist es nicht nur ein Gang sondern ein ganzes Labyrinth.“ „Also los! Folgt mir“ flüsterte Carlos und die Vier machten sich auf den Weg.

Carlos Stirnlampe verbreitete gerade genügend Licht um nicht in der kühlen Dunkelheit des unterirdischen Systems verloren zu gehen. Er ging voraus, während Raoul die Gruppe als Letzter zusammenhielt. Anne blickte über ihre Schulter zurück „Ich hoffe, ihr kennt den richtigen Weg!“ sagte sie zu Raoul. „Na ja, zumindest theoretisch!“ gab er zur Antwort, was ihr nicht gerade ein sicheres Gefühl vermittelte. Der Gang führte leicht bergab und nach ein paar Metern standen Sie vor der ersten Verzweigung. Carlos ging ohne zu zögern nach links und flüsterte Luis und Anne zu dass er in einen Raum führe, in dem sie einen bedeutenden Fund gemacht hätten und dass er sicher sei, dass der Weg nach oben hier durchführe. Die Gruppe folgte Carlos und nach ein paar weiteren Metern standen sie plötzlich in einer grossen Höhle deren Wände mit Felszeichnungen verziert waren. In einer Nische war ein Loch in der Wand zu erkennen. „Hier lag das Artefakt!“ flüsterte Carlos. Sie blieben kurz stehen und betrachteten die eingeritzten Symbole im fahlen Lichtschein. Es gab fünf Ausgänge und jeder von denen schien gleich auszusehen. Carlos zögerte „Weiter als bis hierhin, sind wir noch nicht gekommen!“ sagte er. „Aber ihr wisst, welchen Ausgang wir nehmen müssen?“ fragte Luis. „Na ja, wir waren sicher, es müsse derjenige sein, der leicht ansteigt. Wir wollen ja nach oben.“

Anne fühlte, dass hier etwas nicht stimmte. Labyrinthe waren nie einfach zu durchqueren, sonst hätten sie ihren Zweck verfehlt. Sie blickte in das Dunkel der Öffnung deren Weg sich leicht nach oben neigte. Ein seltsamer Duft kroch in ihre Nase und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Alles in ihr sträubte sich beim Gedanken hier durchgehen zu müssen. „Das ist der falsche Weg!“ sagte sie plötzlich und war selbst überrascht, wie stark sie mittlerweile ihrem Bauchgefühl traute. „Wir sollten einen anderen Weg nehmen!“ fügte sie an. Raoul, Carlos und Luis blickten sie erstaunt an. Sie nestelte ihr Feuerzeug aus der Hosentasche, zündete es an und hielt es jeweils in die Richtung der verschiedenen Öffnungen. Beim dritten Ausgang bewegte sich die Flamme fast unmerklich. Anne ging näher und spürte nun auch selbst den schwachen Luftzug. „Hier müssen wir durch!“ sagte sie. Luis blickte sie ungläubig an. „Bist Du sicher?“ fragte er sie und es war nicht zu übersehen, dass er Zweifel an Annes Vorschlag hatte. „Hast Du eine bessere Idee?“ fragte Anne zurück und Luis schüttelte den Kopf. Raoul hatte sofort begriffen, was Anne mit dem Feuerzeug beabsichtigte und willigte ein. „Lass es uns hier versuchen!“

„Hier!“ rief Anne plötzlich. Im Schein ihres Feuerzeugs hatte sie eine Entdeckung gemacht. An der Seitenwand des von ihr gewählten Ausganges war etwas in den Fels eingeritzt. Ein Symbol, dass Anne kannte. Raoul lächelte und nickte. „Der Kartenstein!“ sagte er und Anne stimmte ihm zu. Tatsächlich hatte die Zeichnung die Form des Steines und Anne erkannte nun, was der Stein für eine Funktion hatte. Er enthielt eine Karte des Labyrinths und würde sie hier herausführen! Sie zog ihren Rucksack aus und nahm den Kartenstein heraus. Er enthielt auf beiden Seiten Linien, die tatsächlich wie ein Labyrinth aussahen. Doch welches war nun der richtige Plan? Die Vier beugten Ihre Köpfe über den Stein.  Plötzlich wusste Anne welche Seite es sein musste. Sie war nämlich schon früher in ihren Träumen in diesem Labyrinth. Damals sagte Raoul zu ihr „Finde den grossen Donnervogel und in der Mitte seines Kopfes, finde die Tür, die keine ist!“

Tatsächlich sah eines der Labyrinthe aus wie die Felszeichnung des Donnervogels und der Ausgang musste also in der Mitte seines Kopfes sein. „Hier!“ sagte Raoul und zeigte mit dem Finger auf eine Verdickung in einer Linie. „Das muss der erste Raum sein, in dem wir uns getroffen haben!“ fügte er an und Carlos nickte und zeigte ebenfalls auf eine Stelle. „Das hier müsste dann die Höhle sein, in der wir uns jetzt befinden!“. Von diesem Punkt führten 5 Linien weg, wobei 4 Linien wenig später endeten. Nur einer der Pfade führte weiter und endete tatsächlich im Kopf des Donnervogels. Es war der Ausgang, den Anne vorgeschlagen hatte. Sie lächelte triumphierend und eine spürbare Erleichterung ergriff die Gruppe. Wieder zerriss ein Geräusch die kurze Entspannung. „Hast Du das gehört?“ flüsterte Anne Luis zu. Luis nickte. Eine bedrückende Stille füllte nun den Raum und die Vier horchten in die Dunkelheit. „Da!“ flüsterte Luis. Ein röchelnder, kehliger Husten drang aus der Entfernung zu ihnen und Anne blickte Luis verheissungsvoll an. „Der Kerl aus dem Flugzeug!“. In kurzen Worten erzählte Anne von dem Mann, der in das Haus ihres Vaters eingebrochen war und etwas dort suchte und der später im gleichen Flugzeug wie Anne und Luis reiste. Scheinbar war er auch im Auto der Verfolger und musste das Inferno überlebt haben. „Los, weiter!“ drängte Anne und sie machten sich auf den Weg in die von Anne vorgeschlagene Richtung. Der Gang neigte sich zuerst nach unten, machte dann einen Bogen nach rechts und fing langsam wieder an zu steigen. Nach etwa 20 Minuten standen sie plötzlich wieder in einem Raum, der Anne bekannt vorkam.

„Ich war hier schon einmal!“ sagte sie. Im Traum habe ich hier mit Dir und meinem Vater gesprochen! Sie blickte erwartungsvoll zu Raoul. Doch er kannte diesen Raum nicht. „Ich bin hier zum ersten Mal!“ flüsterte er. „Weisst Du, wie es weiter geht?“ fragte Luis. Anne war sich nicht sicher und nahm den Stein zu Hilfe. Der Raum hatte drei Ausgänge. Doch genau hier war die Replika des Kartensteines ungenau. An dieser Stelle gab es tiefe Kratzer und es war nicht klar zu erkennen, welcher Weg zu nehmen war, denn zwei der möglichen Pfade schienen sich kurz nach der Höhle zu kreuzen. Anne überlegte kurz, wie das möglich sein konnte? Entweder müsste einer der Pfade über oder unter dem anderen durchführen oder sie kreuzten sich tatsächlich und dann wäre es egal, welchen Weg sie wählen würden. Hauptsache, sie würden nach der Kreuzung in die richtige Richtung laufen und diese war auf der Karte klar ersichtlich.

Wieder erklang der unheimliche Husten irgendwo hinter ihnen und Anne packte Raoul an den Schultern und drehte ihn nach rechts. „Hier durch!“ sagte sie und schob ihren Geliebten vorwärts durch die Öffnung. Nach ein paar Metern weitete sich der Raum tatsächlich wieder und im schwachen Licht von Raouls Stirnlampe war die Kreuzung zu erkennen. „Wir müssen einfach geradeaus weiter!“ flüsterte Anne und Raoul wollte gerade weitergehen als Luis „Halt, warte!“ rief. Raoul stoppte und sah ihn an. „Was ist los?“ fragte er und Luis deutete ihm mit einer Handbewegung, dass er auf den Boden schauen solle. Raoul blickte nach unten und konnte nichts Besonderes entdecken. Vor ihm lag der sandige Boden. Ein paar Schritte weiter lag Laub. Trockene Blätter die aussahen, als ob jemand extra einen Teppich für sie gelegt hatte. „Laub, hier unten? Findest Du das nicht auch ungewöhnlich?“ wunderte sich nun Carlos und blickte Raoul fragend an. Dieser beugte sich nun über den bunten Bodenbelag. Er kniete sich hin und legte seine flache Hand auf den bedeckten Boden, welcher sich weich und federnd anfühlte, was für einen Felsboden doch recht seltsam war. Und noch etwas kam Raoul sehr ungewöhnlich vor. Er spürte einen Luftzug von unten kommend sein Gesicht streifen. „Eine Falle!“ raunte er. „Das hier ist eine Falle!“ wir können hier nicht durch. Unter diesen Blättern muss ein Abgrund verborgen sein!

„Wir müssen zurück! Wenn wir den anderen Weg nehmen, schaffen wir es der Wand entlang um die Ecke zu kommen, ohne in den Abgrund zu stürzen!“ flüsterte Luis und die anderen nickten. Doch sie kamen nicht dazu zurück zu gehen. „Halt! Keine Bewegung oder ich erschiesse jemanden von Euch!“ klang nun vom anderen Weg eine Stimme zu ihnen herüber und eine helle Taschenlampe warf einen Lichtkegel, der von einem schaurigen Husten begleitet wurde. Anne stockte das Blut in den Adern. Sollte das Abenteuer tatsächlich hier enden?

Weiter mit Fragmente 1.31 – Die Wendung

Fragmente 1.20 – Peru

Was bisher geschah:

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Luis blickte Anne erschrocken an. „Was ist mit dir passiert? Du bist augenblicklich bleich geworden und ich sehe Angst in deinem Gesicht!“ Sie schaute in seine Augen und am liebsten hätte sie ihm alles erzählt. „Der Kerl macht mir Angst!“. „Sollte er Dir etwas tun wollen, wird er es zuerst mit mir aufnehmen müssen!“ Luis lächelte Anne beruhigend an. „Keine Angst! Ich werde dich begleiten wenn wir gelandet sind.“ Anne lächelte zurück. Der Flug würde noch ein paar Stunden dauern, aber mit Luis an ihrer Seite würde sie sich doch noch etwas Schlaf gönnen können.

Anne schloss ihre Augen und versuchte sich zu entspannen. Langsam sank ihr Geist immer tiefer und tanzende Lichter wechselten sich ab mit wabbernden Schwaden bunten Feuers. Sie fiel immer tiefer und landete schliesslich im inneren eines dunklen Zimmers. Sie sah Raoul und einen anderen etwas jüngeren Mann im Schein einer fahlen Lampe an einem Tisch sitzen. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden besprachen, aber ihr fiel auf, dass der andere Raoul sehr ähnlich sah. Sie kam näher und Raoul hob seinen Kopf. „Anne!“ Er stand auf und nahm sie in die Arme. Sie war froh, dass er nicht wie sonst vor jeder Berührung plötzlich verschwand und ihr war klar, dass sie sich wieder in einem Traum befand. „Darf ich Dir meinen jüngeren Bruder vorstellen? Das ist Carlos. Carlos, das ist Anne, meine geliebte Anne von der ich Dir schon so viel erzählt habe.“ Carlos lächelte und streckte Anne seine Hand entgegen. Als sich ihre Hände zum Gruss berührten veränderte sich die Szenerie schlagartig. Das Zimmer um sie herum verschwand und sie standen nun auf einer weiten Ebene.

Anne lies Carlos Hand los und schaute Raoul erstaunt an. „Wo sind wir hier?“ Doch bevor Raoul antworten konnte, begann Carlos laut zu rufen „Hier sind wir!“ er winkte und sein Gesicht begann vor Freude zu strahlen. Anne sah, wie Carlos Augen plötzlich feucht glänzten und sich eine Freudenträne ihren Weg über seine Wange bahnte. Schnell putzte er sie mit seinem Handrücken weg und blickte kurz, leicht verschämt zu Anne und Raoul. Doch Raoul nickte nur und lächelte. Anne blickte in die Richtung in die auch Carlos blickte. Eine Gestalt löste sich aus dem Horizont und kam schnell näher. Ein junger Mann mit schwarzer Wuschelfrisur kam auf sie zugerannt und Carlos und er fielen sich in die Arme.

Anne sah gerührt zu und begriff, dass es sich um ein Wiedersehen von Liebenden handelte. Die beiden Männer umarmten sich fest und nach einem Moment legte Carlos seine beiden Hände zärtlich auf die Schultern des Anderen und sie schauten sich für einen Moment lang tief in ihre Augen. „Carlos!“ sagte der andere Mann und auch ihm rannen Freudentränen über das Gesicht. „Luis!“ entgegnete nun Raouls Bruder und die Lippen der beiden trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. „Luis?“ Anne konnte nicht genau definieren, welche Gefühle in ihr tanzten. „Luis?“ fragte sie noch einmal und der Angesprochene blickte sie freudig an. „Hallo Anne!“ sagte dieser und fügte hinzu: „Siehst Du, gemeinsam werden wir sie finden!“. Er löste sich von Carlos und trat zu ihr. Sie umarmten sich herzlich.

Plötzlich riss ein donnerndes Geräusch Anne aus der Wiedersehensfreude. Die sandige Ebene um sie herum löste sich plötzlich auf. Steine begannen in freien Fall überzugehen und auch alles andere um sie herum begann zu schweben und sie entfernte sich immer mehr. Die Szenerie ging in Dunkelheit über und Anne sank wieder in tiefen Schlaf.

„Anne! Wach auf!“ Luis stimme klang zärtlich und leise an ihr Ohr! „Wir sind in Turbulenzen geraten. Du musst Deinen Sitz aufrecht stellen und Dich anschnallen.“ Anne öffnete ihre Augen und setzte sich gerade hin. „Wie lange wird der Flug noch dauern?“ fragte sie. „Wir werden in etwa 2 Stunden landen!“ sagte er und lächelte Anne beruhigend an. Anne erwiederte Luis Lächeln und fügte hinzu „Dann können wir uns endlich auf die Suche nach unseren Geliebten machen!“ Sie beobachtete wie Luis darauf reagierte. Er schaute sie neugierig an. „Ich habe doch nur von einem Freund gesprochen, nicht von einem Geliebten“ erwiederte er etwas erstaunt. „Ich werde Dir alles erzählen!“ sagte Anne „Und ich bin sicher, dass wir Raoul und Carlos gemeinsam finden werden!“

Nun schaute Luis Anne total ungläubig an. Sein Mund stand offen und für ein paar Momente vergass er sogar zu blinzeln. „Mach Deinen Mund wieder zu!“ lachte Anne. „Woher weisst Du von Carlos? Was geht hier vor? Wer bist Du?“. Anne lächelte Luis an. „Also stimmt es? Du bist auf der Suche nach Carlos, Deinem Freund?“ Luis nickte ungläubig. „Du weisst dass er einen Bruder hat?“ Luis nickte abermals und Anne fuhr weiter „Sein Bruder heisst Raoul, nicht wahr?“ Luis bekam seinen Mund immer noch nicht zu und nickte wieder. „Raoul, der Bruder von Deinem Carlos, ist derjenige den ich suche!“.

Luis verstand die Welt nicht mehr. Er wollte wissen woher Anne dies alles wusste und wieso sie sich nicht schon von Anfang an zu erkennen gab. Anne erzählte von ihren Träumen, von Aquila und davon, dass sie seit ihrem ersten Traum vor ein paar Wochen immer wieder Hinweise darin bekam und sogar mit ihrem Vater, der im Koma lag, in Verbindung treten konnte. In Luis Ohren klang das alles sehr abenteuerlich und er wusste augenscheinlich noch nicht, ob er ihren Worten trauen wollte. „Das klingt alles sehr…naja….verwirrend!“ antwortete er ihr und Anne nickte. Auch für sie war es immer noch nicht selbstverständlich und unglaublich.

Sie bestellten noch einmal etwas zu trinken und Anne erzählte Luis die ganze Geschichte. Angefangen bei der Trennung von Nick bis zum Hier und Jetzt. Luis hörte sich alles an, nickte zwischendurch oder stellte eine Verständnisfrage. „Weisst Du, ich beschäftige mich schon längerer Zeit mit solchen Phänomenen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es tatsächlich möglich ist!“. Er erzählte Anne davon, dass auch er oft träume, aber dass es ihm oft nicht gelang das Geträumte zu verstehen oder einzuordnen. Er erzählte ihr auch, dass er öfters sogenannte „Deja-Vu’s“ habe und sich aber auch das nicht richtig erklären konnte. Auch als er Anne einsteigen sah, habe er das Gefühl gehabt, dies sei schon einmal geschehen und er sei Anne schon vorher begegnet. Daher hatte er sie auch angesprochen, was er sonst nicht so unbekümmert getan hätte.

Das Zeichen zum Anschnallen erklang plötzlich wieder und eine Stimme im Lautsprecher gab an, dass sich die Maschine im Landeanflug befand. Anne und Luis blickten einander verschworen an und lächelten sich zu. „Auf eine gemeinsame Suche in Peru!“ sagte sie und trank den letzten Schluck ihres Proseccos. Sie blickte dabei aus dem Fenster und der Flughafen mit seiner gewaltigen Start- und Landebahn welche die landwirtschaftliche Zone von der Stadt abtrennte, kam immer näher. Anne freute sich nun über die bevorstehenden Abenteuer. Fast hatte sie den Verfolger mit seinem Husten vergessen, dem sie schon im Haus ihres Vaters begegnet war. Das röchelnde, kehlige Rasseln seiner Bronchien holte sie wieder zurück in die Realität.

Sie wandte sich an Luis und erklärte ihm, dass sie irgendwie aus dem Flughafen entwischen mussten, ohne in die Hände ihrer Verfolger zu geraten, welche nun wüssten, wer sie sei. Sie erklärte Luis, dass sie unbedingt den Stein zu Raoul bringen müsse. Luis sah sie gelassen an. „Kein Problem, Anne!“ entgegnete er. Ich kenne jemanden der am Flughafen arbeitet. Er wird mich abholen und mit ihm werden wir unbemerkt flüchten können. Annes Nervosität blieb und sie blickte mit grosser Angst dem Moment des Aussteigens entgegen.

Die Reifen des Flugzeuges stöhnten quietschend als die Maschine aufsetzte und landete. Der Pilot manövrierte den Metallvogel zu den Terminals und endlich hielten sie an. Anne stand auf und holte ihre Reisetasche aus dem Kofferabteil. Auch Luis griff sich seinen Rucksack und setzte seine Sonnebrille auf. „Na dann sehen wir zu, dass wir hier unbeschadet weg kommen!“  Als sie die Maschine verliessen, fielen Anne bereits die bewaffneten Polizisten am Eingang zum Terminal auf. Sie machte Luis darauf aufmerksam und sie stiegen vorsichtig um sich blickend in den Bus, der sie vom Rollfeld zum Flughafengebäude bringen sollte. Der Bus näherte sich dem Schatten spendenden Vordach des Terminals und hielt an. Die Passagiere verliessen den Bus und auch Anne und Luis stiegen aus, um sich ihren Weg zur Gepäckausgabe zu bahnen.

Die Polizisten beobachteten sie und Anne konnte sehen, dass ihr hustender Verfolger zu ihnen hinging, etwas mit ihnen besprach und dabei mit dem Finger auf sie zeigte. Sie wurde zusehends nervöser und hoffte, dass ihr Koffer auf dem Förderband bald kam. Doch ihr Koffer kam nicht. Sie warteten bis am Schluss und als das Band abgestellt wurde, war Anne klar, dass sie ihren Koffer wohl vergessen konnte, was einer Katastrophe gleichkam, denn darin befand sich der Stein mit der Karte. Sie blickte zu Luis, der am Handy in Spanisch mit seinem Kollegen, der hier am Flughafen arbeitete, sprach. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Buchstäblich! Denn nun kamen die bewaffneten Polizisten auf sie zu. „Miss!“ rief nun einer und blickte sie dabei an. Anne wurde nervös und versuchte sich einen Fluchtweg zu suchen. Doch da war keiner. Die Beamten kamen von drei Seiten auf sie zu. „Miss Kammermann!“ rief nun der eine Polizist wieder. Nur noch ein paar Meter trennten Anne und Luis von den gefährlich wirkenden Männern in Uniform.

Weiter mit Fragmente 1.21 – Unerwartete Wendungen

Fragmente 1.18 – Die Reise ins Ungewisse

Swiss A330

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Was bisher geschah:

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Anne schlief nicht durch. Immer wieder wachte sie auf und die Nervosität wegen der bevorstehenden Reise liess sie lange wach liegen. Irgendwann war es endlich Morgen geworden und Anne war froh, das Bett verlassen zu können. Irgendwie fürchtete sie sich ein Stück weit vor dem was nun vor ihr lag, andererseits freute sie sich auch darauf. Sie würde Raoul wiedersehen und sie würde in das grösste Abenteuer ihres Lebens aufbrechen.

Alles war bereit. Ihre Koffer waren gepackt, der Stein mit der Karte im Gepäck verstaut und sie musste nur noch losziehen. Nur noch ein letztes Frühstück mit Sandra trennte sie von dem Abflug. Die beiden Freundinnen sprachen nicht viel, obwohl sie einander beide noch so viel zu sagen hatten. Anne die Sandra danken wollte und der ihre Freundin jetzt schon fehlte. Und Sandra die voller Sorge war, ob Anne die Reise und vor allem ihren Aufenthalt in Peru schadlos überstehen würde. Doch Worte waren überflüssig. Immer wieder trafen sich die Augen der beiden jungen Frauen. Ab und zu huschte ein verschwörerisches Lächeln über ihre Lippen und das Unausgesprochene lag greifbar in der spannungsgeladenen Luft.

Ihre Kommunikation funktionierte wortlos, was das innere Band der beiden zusätzlich verstärkte. Anne würde Sandra sehr vermissen. Aber sie wusste auch, dass Sandra in ihrem Herzen bei ihr sein würde. Und ihr war klar, dass sie diesen Weg alleine gehen musste. Denn es war nicht so sehr die Reise zu Raoul oder das Abenteuer in einem fernen Land das vor ihr lag. Viel mehr war es der Weg zu ihr selbst. Ein Aufbruch in eine Zukunft, in der sie selbst ihre Geschicke in die Hand nahm. Es würde von ihren Entscheidungen abhängen, ob sie überleben würde. Es gab niemanden, dem sie folgen konnte, niemanden der sie unterwegs beschützte oder ihr helfen konnte. Bis zu dem Zeitpunkt an dem sie Raoul in Peru finden würde, war sie komplett auf sich selbst gestellt.

Dieses Gefühl von Selbstbestimmtheit, Stärke und dem Wissen auf einer wichtigen Mission zu sein, erfüllte Anne mit Kraft und sie lächelte Sandra wortlos an. Sandra nickte nur und blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit und die beiden Frauen mussten das Hotel verlassen. Nachdem der letzte Koffer und die Reisetasche verstaut waren, fuhren sie in Richtung Flughafen davon. Die Fahrt verlief dieses Mal ohne Zwischenfälle und sie kamen rechtzeitig an der angegebenen Abflughalle an. Anne lud ihr Gepäck auf einen Rollwagen und Sandra begleitete sie zum Check-In.

Wie immer, wenn Anne sich auf einem Flughafen befand, befiel sie dieses Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Diese Orte waren Tore zur Welt und von hier aus konnte man beinahe jedes Land erreichen. Schon als Kind war Anne von diesen Gebäuden fasziniert. Die Menschen hier strahlten ein Gefühl aus, dass sich sonst nirgendwo so manifestierte. Anne tauchte ein in diese Energie und nur der Moment des Abschieds von Anne vermochte Ihre Freude und Spannung zu trüben. Dann war der Augenblick gekommen. Sandra nahm Anne in die Arme und die beiden Freundinnen umarmten sich. Sandra wartete bis Anne eingecheckt hatte und schaute ihrer Freundin nach, als diese sich zum Zoll begab. Anne blieb kurz stehen und hob ihre Hand zu einem letzten Gruss. Dann wurde sie von dem Durchgang verschluckt, der die Sicherheitszone vom Check-In trennte.

Sie suchte ihr Gate und musste dort noch fast eine Stunde auf das Boarding warten. Sie nutzte die Zeit und schmöckerte in ihrem Reiseführer. Ihre Gedanken pendelten zwischen der Vergangenheit, dem Hier und Jetzt und der kurz bevorstehenden Zukunft. Innerlich verabschiedete sie sich von ihrem alten Leben und bereitete sich auf das vor, was vor ihr lag. Die Bilder der Nazca-Ebenen in dem Buch in ihren Händen entlockten ihr ein Lächeln. Bald, davon war sie überzeugt, würde sie endlich Raoul gegenüber stehen. Bald würde sich der Kreis schliessen. Bald würde sie in Peru und bei sich selbst angekommen sein.

Eine Stimme aus dem Lautsprecher, die das Boarding ihres Fluges ankündigte, riss Anne aus ihren Gedanken. Sie stand auf, begab sich zu dem Gateway und bevor sie noch einmal zurückschauen konnte, befand sie sich im Bauch des Flugzeugs. Im Inneren herrschte die typische Betriebsamkeit vor dem Start eines Fluges. Passagiere hievten ihr Handgepäck in die Kofferablagen oberhalb der Sitze, Flugbegleiterinnen lächelten freundlich und zeigten Fluggästen ihre Plätze. Anne hatte Glück und hatte einen Fensterplatz buchen können. Sie hatten ihre Reisetasche verstaut, sich ihre Reiseführer und Magazine in der Tasche an der Hinterseite der Rücklehne des Sitzes vor ihr eingesteckt und machte es sich in ihrem Sitz so bequem es eben ging.

Langsam füllte sich die Maschine bis auf den letzten Platz. Nur zwei Reihen vor Ihr blieb noch ein Sitz frei. Das musste der zweite der annulierten Pätze der sonst ausgebuchten Maschine sein. Sandra blickte aus dem Fenster und sie nahm das Bild der ihr vertrauten Landschaft in sich auf. Die sanften grünen Hügel, die dunklen Wälder, die Häuser der Städt. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie keinen Rückflug gebucht hatte. Wann würde sie diese vertrauten Bilder wieder sehen? Wann würde sie zurückkehren? Langsam spürte sie, wie neben ihrer Freude über das Abenteuer auch das Gefühl des Abschieds, der Trennung von dem was ihr vertaut und lieb geworden war vor ihr stand.

Würde ihr Vater im Krankenhaus bald aus dem Koma erwachen? Wann würde sie ihn und Sandra wieder sehen? Anne versuchte diese Gedanken abzuschütteln und vertiefte sich in eine Illustrierte, die sie sich am Kiosk im Flughafen gekauft hatte. Doch für einmal vermochten sie die Seiten mit den neusten Handtaschen und Schuhmodellen nicht wirklich in ihren Bann zu ziehen. Immer wieder schweiften Ihre Gedanken ab und immer wieder zog es ihren Blick zu der vertrauten Umgebung des Flughafens. Langsam rückte der Start der Maschine immer näher. Die Tür des Flugzeugs wurde geschlossen und Anne gurtete sich vorsichtshalber bereits an.

Doch die Maschine blieb stehen und mehrere Minuten vergingen, ohne dass sie auf das Rollfeld manöveriert wurden. Eine Flugbegleiterin ging nun plötzlich auf die bereits geschlossene Tür des Flugzeugs zu und öffnete diese erneut. Jemand schien sich verspätet zu haben und stieg noch nachträglich zu. Anne kannte diesen Mann nicht der nun auf dem freien Sitz, der ihr vorher aufgefallen war, Platz nahm. Und doch beschlich sie ein seltsames Gefühl, als sie bemerkte, wie dieser sich umschaute und jemand zu suchen schien. Bevor sich sein Kopf in ihre Richtung drehte, verschanzte sie sich schnell hinter ihrem aufgeschlagenen Magazin. Vielleicht war es ja nur so ein dummer Verdacht, der aufgrund der Erlebnisse der letzten Tage in ihr hochstieg. Und doch kroch ihr die Angst den Rücken hoch, wenn sie diesen Mann betrachtet, der nun in seinem Sitz sass und nach vorne blickte.

Langsam setzte sich nun das Flugzeug in Bewegung und rollte auf die Startbahn. Die Triebwerke wurden immer lauter, heulten auf und die Maschine gewann rasch an Geschwindigkeit. Die Fluggäste wurden in Ihre Sitze gedrückt und plötzlich hoben sie ab. Der Belag der Flugpiste raste unter ihnen vorbei und die Gebäude wurden immer kleiner. Nun gab es kein zurück mehr! Anne atmete tief durch und lehnte sich in ihrem Sitz zurück und genoss das Gefühl, sich immer weiter weg von der Welt da unten zu entfernen. Und unweigerlich drängte sich ein altes Lied in ihren Kopf „Über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…“

Langsam entspannte sich Anne und beschloss, sich einen Prosecco zu bestellen, sobald die Flugbegleiterin vorbeikommen und sie nach einem Getränkewusch befragen würde. Sie wollte den Moment gebührend würdigen und ihr Abenteuer feierlich beginnen. Je höher sie stiegen umso besser fühlte sich Anne und je näher sie Peru kamen umso mehr freute sie sich auf das Wiedersehen mit Raoul. Sie schloss ihre Augen und versuchte sich auszumahlen, wie es sein würde ihren fernen Freund in ihre Arme zu schliessen.

Doch ein trockener, kehliger Husten riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute sich um. Der Kopf des verspätet zugestigenen Passagiers hob und senkte sich und er hustete erneut. Annes erstarrte und obwohl sie einen machtvollen Drang verspürte laut heraus zu schreien, schnürrte ihr  die Panik die Kehle zu. Augenblicklich wurde ihr klar, dass sie diesen Husten kannte. Und sie wusste auch sofort wo sie ihn zuvor schon gehört hatte.

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