Fragmente 1.34 – Die Bibliothek

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Sie rannten los und erreichten mit ein paar Schritten den Eingang. Dicke, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Raoul war als erster bei der Leiter, die nach unten führte. „Los, kommt!“ rief er und Anne fasste seine Hand, die er ihr entgegen streckte. Ein zweiter Schuss zeriss die Stille der Nacht und der Monsignore schrie ausser sich vor Wut: „Ich werde Euch alle in die Hölle schicken! Bleibt stehen!“. Von der Dunkelheit geschützt kletterten sie in den unterirdischen Gang und entfernten die Leiter vom Eingang. Carlos reichte Luis und Raoul Taschenlampen aus seinem Rucksack und sie spurteten los. Allen voran lief Anne mit dem Schlüsselstein in der Hand. Sie betrachtete die Linie, die ihnen den Weg weisen sollte und befahl mit leiser Stimme in welche Richtung abgebogen werden sollte, wenn der der Gang sich hin und wieder verzweigte.

Hinter ihnen erklang plötzlich ein dumpfes Geräusch. Ein leiser Schrei signalisierte den Verfolgten, dass der Monsignore mit einem Sprung ebenfalls in den dunklen Gang eingestiegen war. „Los, weiter! Hier entlang“ flüsterte Anne und zeigte mit der Hand nach rechts in einen Tunnel, der leicht nach unten führte. „Bist Du sicher, dass wir da hinunter müssen?“ fragte Raoul. Anne antwortete nicht, sondern lief einfach los. Die Anderen folgten ihr und plötzlich endete der Tunnel in einem schachtartigen Raum. „Eine Sackgasse!“ rief Luis und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hinter ihnen hörten sie den keuchenden Atem ihres Verfolgers, der ihnen immer näher kam. Raoul leuchtete mit der Taschenlampe die Wände der Höhle ab. Der Raum hatte eine quadratische Grundfläche und schien etwa 10 Meter hoch zu sein. Anders als die Tunnel des Labyrinths schienen die Wände hier aus glatt poliertem Stein zu sein und jedes Geräusch wurde von den Wänden, wie in einem Resonanzkörper eines Instruments, verstärkt. „Hier war ich schon mal“ murmelte Anne. Aber noch bevor Sie weiterreden konnte, stiess der Monsignore zu ihnen.

„Keine Bewegung!“ schrie er und Anne blickte zu ihm hin während sich nackte Angst in Sekundenschnelle durch ihren Körper frass. Sie sah in seine schreckliche Fratze die schrecklich entstellt und verbrannt war. Der blanke Hass blitzte aus den Augen des Geistlichen und ein Fetzen der Haut seiner linken Wange hing lose herunter. Einen Moment lang fragte sie sich, ob das nur ein Alptraum war. Dann sah sie nur noch wie er seine Waffe auf sie richtete und als sich ein Schuss mit einem ohrenbetäubenden Knall löste, spürte sie nur noch, wie etwas mit einer unglaublichen Wucht in ihren Körper eindrang und sie in ein dunkles Loch stürzte.

Als Anne ihre Augen wieder öffnete, sah sie sich irgendwie selbst im schwarzen Nichts. Sie stürzte ins bodenlose. Immer weiter. Oder schwebte sie nach oben? Sie konnte sich weder bewegen, noch konnte sie überhaupt fühlen, ob sich ihre Seele noch in ihrem Körper befand. Panik überkam sie. War sie tot? Da war dieser Schuss der sie getroffen hatte. War sie stark verletzt? Sie versuchte an sich herunter zu schauen, ob sie eine Wunde entdecken konnte, doch sie konnte ihren Körper nicht wirklich erkennen. Ihre Umrisse waren nur noch als schimmernde, undefinierbare Form, als ätherische Aura vorhanden.

Plötzlich, die körperlose Stasis schien Äonen lang angedauert zu haben, wich die Stille einem Geräusch dass sie kannte. Aquila! Dann ging alles sehr schnell. Ihr Körper schien sich wieder zu manifestieren und ihr Traumgefährte tauchte unter ihr auf, um sie aus der Leere zu befreien. Sie landete auf seinem Rücken und augenblicklich fing sie sich wieder. „Aquila, bin ich gestorben?“ fragte sie ihren Freund in Gedanken. „Nein! Das bist Du nicht. Aber Du wurdest angeschossen und bist bewusstlos zusammengebrochen.“ Sie wollte wissen wie es ihren Freunden erging, doch Aquila vertröstete sie auf später. „Du hast erst noch ein wichtiges Rendezvous!“ drangen seine Gedanken in ihren Kopf. „Vater?“ Auqila bejahte und langsam sah Anne, wie die Dunkelheit um Sie herum wich. Im Leeren Raum sah sie ihren Vater in derselben Höhle sitzend, in der sie vorher angeschossen wurde. Die Wände schienen durchscheinend zu sein und Aquila blieb plötzlich in der Luft stehen und schwebte an Ort und Stelle. „Steig ab und geh zu Deinem Vater!“ drang es in ihren Kopf und Anne kletterte vom Rücken des Adlers um neben ihrem Vater wieder festen Boden unter den Füssen zu erreichen.

„Paps!“ rief sie und fiel ihm in die Arme! Sie wollte ihm so viel erzählen, aber die Sorge um ihre Freunde liess ihr keine Ruhe. Nachdem sich Anne von ihm gelöst hatte, setzte er sich wieder hin und strahlte eine Ruhe aus, die Anne fast zur Verzweiflung brachte. „Vater, ich muss zu meinen Freunden, sie sind in Gefahr! Schnell!“. Er lächelte und erklärte Anne, dass die Zeit hier in der Traumwelt anders tickte. Stunden und Tage die man hier erlebt, dauerten  auf der anderen Seite nur Minuten. „Ich muss Dir etwas Wichtiges sagen!“ fing er an und erklärte Anne, wie man den Zugang zur Bibliothek öffnen konnte. Er erzählte ihr auch von einem Sicherheitsmechanismus. Einer Falle, die den Zugang zur Bibliothek so verschliessen würde, dass sie für lange Zeit vor einem erneuten Zutritt gesichert bliebe. Anne hörte gespannt zu und versuchte sich jedes Detail genau einzuprägen. Plötzlich nahm ihr Vater ihr Gesicht zärtlich in seine Hände, küsste sie auf die Wange und sagte: „Du musst gehen!“ Wieder umschlang Anne die Dunkelheit. Nur kurz. Dann spürte sie, wie ein Sog sie zurück in ihren Körper katapultierte.

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und nun fühlte sie auch den Schmerz ihrer Schusswunde. Ihre linke Schulter war getroffen, doch die Austrittswunde am Rücken zeigte ihr, dass es ein glatter Durchschuss war. Sie blickte um sich und registrierte sofort was in der Zwischenzeit geschehen war. Raoul, Carlos und Luis sassen gefesselt im Gang aus dem sie kamen und der Monsignore hantierte mit dem Schlüsselstein an einer Öffnung in der Wand, die dem Zugang gegenüber lag. Seine Waffe hatte sich der Geistliche hinten in den Bund seiner Hose gesteckt und er bemerkte nicht, wie Anne sich heranschlich. Mit einer raschen Bewegung packte sie den Revolver, entsicherte und hielt ihn dem keuchenden Monster an den Hinterkopf.

„Was zur Hölle…“ rief er überrascht und wollte sich umdrehen. Doch Anne hiess ihn so stehen zu bleiben. „Legen sie den Schlüsselstein schön langsam auf den Boden und gehen sie dann ein paar Schritte zurück.“ Er zögerte, doch Anne drückte ihm den Lauf der Waffe noch stärker ins Genick. „Ich zögere keinen Augenblick abzudrücken!“ rief sie. „Schön langsam hinlegen“ wiederholte sie und der Monsignore gehorchte widerwillig. Dann befahl ihm Anne, die Fesseln von Raoul zu lösen, was er ebenfalls tat. Raoul verfolgte staunend wie souverän seine Geliebte die Situation meisterte. „Los Raoul, mach Deinen Mund wieder zu und fessle den Mistkerl!“ lachte Anne nun sichtlich über Raouls Gesichtsausdruck amüsiert. Raoul tat was Anne sagte und Minuten später lag der Monsignore gefesselt am Boden, während die anderen sich befreiten und zu Anne hingingen. „Du blutest stark!“ sagte Raoul besorgt und griff in seinen Rucksack, in den er auch Verbandsmaterial für den Notfall gestopft hatte, was Anne nun zugutekam. Er versuchte ihre Wunde so gut wie möglich zu verbinden. Aber es war beiden klar, dass Anne baldmöglichst in ein Krankenhaus musste. „Ich weiss, wie wir die Bibliothek öffnen können!“ raunte Sie Raoul zu. Auch Carlos und Luis hatten das gehört und kamen dazu. „Was müssen wir tun?“.

Anne erklärte, dass sich in jeder Wand eine kleine Nische befinden musste, in der sich eine Art Flöte befand. Würden diese in einer bestimmten Abfolge gespielt, so dass alle Töne zusammen am Schluss einen Akkord ergaben, würde sich das Tor öffnen. „Und was ist mit der Öffnung für den Schlüsselstein?“ wollte Carlos wissen und zeigte auf eine Einbuchtung in der Wand, in die das angesprochene Artefakt perfekt zu passen schien. „Eine Falle!“ erklärte Anne mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht. Raoul wollte wissen, was denn passiere, wenn jemand den Schlüsselstein da einfügen würde. Doch Anne wusste auch nicht mehr, als dass der Eingang der Bibliothek dann für lange Zeit so verschlossen würde, dass niemand ihn öffnen konnte. „Gut!“ meinte Raoul und fügte an: „genau das werden wir nachher tun! Doch erst möchte ich mich vergewissern, dass die Bibliothek noch immer existiert. Wollen wir sie öffnen?“. Anne nickte.

Sie tasteten die Wände des Schachtes ab und tatsächlich waren die Nischen mit den Flöten bald gefunden. Es waren vier röhrenartige Gebilde aus einem schimmernden Metall. Anne zeigte den anderen wie die Flöten gespielt werden mussten und führte das Rohr an ihre gespitzten Lippen um Luft in die horizontale Öffnung zu blasen. Ein panflötenartiger Ton erklang. Nun gab Anne die Zeichen welche Flöte in welcher Reihenfolge angespielt werden sollte. Erst gab Luis seinen Ton, dann kam der von Raouls Flöte, dann der von Carlos und am Schluss der vierte Ton von Annes Instrument dazu. Der Akkord schien genau auf die Resonanz des Raumes abgestimmt zu sein und der Klang verstärkte sich durch Hall der Wände und wurde immer lauter und stärker.

Die Luft begann zu vibrieren und plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch.

Weiter mit dem Schluss der Geschichte: Fragmente 1.35 – Einmal bis zur Ewigkeit und zurück

Fragmente 1.7 – Ein Rätsel kündigt sich an

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

Es klickte abermals in der Leitung und das Rauschen verminderte sich plötzlich. „Anne? Hier ist Raoul!“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Ihr Vater und Sandra blickten sie voller Erwartung an. Sie nickte ihnen zu. „Raoul, ist alles in Ordnung bei Dir?“ fragte sie. „Ja, alles in Ordnung!“ antwortete er leise. Aber am Flüsterton und einem kaum wahrnehmbaren Vibrieren in seiner Stimme konnte sie erkennen, dass nichts in Ordnung war. „Wo bist Du?“ fragte sie. „Das will ich am Telefon nicht verraten, ich glaube nämlich, dass es abgehört wird!“ fuhr er weiter. Er erzählte Anne, dass er immer noch verfolgt würde und deshalb untergetaucht sei. „Ich kann niemandem trauen, deshalb werde ich mir ein neues Handy besorgen und Du, liebe Anne, solltest das gleiche tun!“ Anne überlegte fieberhaft und es wurde ihr schlagartig klar, dass sein Rat richtig war. Schliesslich wies der Mord an Nick klar genug darauf hin, dass auch sie hier in Gefahr sein könnte.

„Anne, ich brauche etwas von Dir, aber ich will am Telefon nicht darüber sprechen. Du wirst von mir eine verschlüsselte Nachricht erhalten. Ich bin überzeugt, dass Du das Rätsel lösen wirst. Dann wird Dir auch klar sein, worum es geht. Dein Vater wird Dir mehr darüber erzählen können. Frage ihn nach XB2345. Er wird wissen worum es geht!“ Anne brannten tausend Fragen auf der Zunge, aber Raoul verabschiedete sich sogleich wieder und versprach, sich wieder zu melden, sobald er ein neues Mobiltelefon besorgt hätte. „Dann werden wir reden können!“ fügte er hinzu und sagte „Anne, ich würde Dich so gerne sehen! Ich bin todtraurig, dass ich im Moment nicht zu Dir kommen kann. Aber es ist einfach zu gefährlich. Warte auf meinen nächsten Anruf!“ Es klickte wieder in der Leitung und bevor Anne etwas erwidern konnte, legte Raoul auf.

Sandra und Annes Vater blickten sie neugierig an. Das ganze Gespräch über hielt Sandra ihre Kaffeetasse vor ihren geöffneten Lippen um zu trinken, aber die Spannung hatte sie erstarren lassen. Mit einem leichten Kopfschütteln löste sie sich aus ihrer Stasis. „Und? Was hat Raoul gesagt?“ fragte sie und auch Annes Vater stand diese Frage ins Gesicht geschrieben. Anne erzählte, was sie von Raoul erfahren hatte. Als sie „XB2345“ erwähnte, weiteten sich die Augen von Annes Vater. „Die Falle!“ platzte es aus ihm heraus. „Was?…“ wollte Anne nachfragen, als er weiterfuhr: „Raouls Vater hatte damals Hinweise gefunden, die darauf hindeuteten, dass die Fundstelle eine falsche Spur sein könnte!“ Anne und Sandra drängten ihn weiter zu erzählen.

Annes Vater machte eine Pause und genoss die Aufmerksamkeit. „Es könnte sein, dass es zwei Bibliotheken gibt! Eine die relativ leicht zu finden war und die nur einige wenige, unbedeutende Schriftstücke enthielt. Genug um jemanden zu täuschen. Wir vermuteten, dass es sich beim Fund um eben diese falsche Fährte handelte, nur fanden wir keine weiteren Hinweise, die uns zur richtigen Bibliothek geführt hätten.“ Er erzählte weiter und berichtete, was es mit „XB2345“ auf sich hatte. Es war ein Codename, den sie dem Thema gaben, denn sie wollten nicht, dass die Theorie der zwei Bibliotheken bekannt wurde.

„Dass Raoul diesen Code erwähnte, könnte bedeuten, dass sie weitere Hinweise zur zweiten Bibliothek gefunden haben, oder vielleicht sogar die Bibliothek selbst!“ kombinierte Anne. Ihr Vater nickte. „Aber, was könnte Raoul von mir wollen? Wie könnte ich ihm wohl helfen?“ fragte Anne. Doch ihre Frage sollte noch eine Weile unbeantwortet bleiben.

Nachdem sich ihr Vater auf den Heimweg gemacht hatte und Sandra zum Einkaufen gefahren war, sass Anne noch lange in der Küche und dachte über die Ereignisse der letzten Tage nach. Sie hatten viel Energie gekostet und Anne fühlte sich todmüde. Sie stand vom Tisch auf und räumte das Frühstücksgeschirr ab. Sie beschloss sich nochmals kurz hinzulegen, bevor sie sich ein neues Handy, mitsamt neuer Telefonnummer, besorgen wollte.

Als sie es sich auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte, fielen ihre Augen schnell zu. Ihre Atemzüge wurden ruhiger, tiefer und langsamer und sie tauchte vertauensvoll ab in die liebevolle Dunkelheit des Schlafes. Doch plötzlich hörte Anne ein klopfendes Geräusch. Sie setzte sich auf und blickte zum Wohnzimmerfenster. Aber dort war niemand zu sehen. Sie stand auf und ging näher, um hinaus zu sehen. Blitzartig durchfuhr sie der Gedanke, dass sie vorsichtig sein musste. Hatten Nicks Mörder vielleicht doch schon herausgefunden wo sie sich aufhielt? Sie bewegte sich aus dem Sichtbereich und drückte sich mit dem Rücken zur Wand links neben den aufgezogenen Vorhang. Ihr Herz klopfte wild bis zum Hals, ihre Hände wurden feucht und Gedanken tobten durch ihren Kopf.

Vorsichtig versuchte Sie einen Blick zu erhaschen und sah einen Schatten. Ihr Blut gefror in ihren Adern. Sie fühlte wie die Panik Besitz von ihr ergriff und doch zwang sie sich, einen weiteren Blick zu riskieren.

Anne hielt ihren Atem an und schaute ein zweites Mal vorsichtig hinaus und was sie sah, liess den Boden unter ihren Füssen wanken.

Weiter mit Fragmente 1.8 – Die Warnung

Fragmente 1.6 – Verborgene Wahrheit

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Was bisher geschah:

Fragmente 1.0 – Anne / Fragmente 1.1 – Aufbruch

Fragmente 1.2 – Anruf aus der Vergangenheit / Fragmente 1.3 – Raoul

Fragmente 1.4 – Ein neuer Traum / Fragmente 1.5 – Gefahr droht

Anne und ihr Vater blickten einander erschrocken an. „Die Polizei!“ flüsterte sie ihrem Vater zu. „Bleib ganz ruhig, es wird sich sicher alles aufklären.“ Versuchte er sie zu beruhigen. Sandra führte die beiden Beamten in die Küche und bot ihnen einen Kaffee an. Inspektor Trost und sein Assistent nickten beide dankbar. „Bitte nehmen sie Platz.“ Sagte Sandra und goss zwei weitere Tassen ein. „Sie haben es ihrer Tochter schon erzählt?“ fragte der Beamte und schaute Annes Vater an. „Ja, sie weiss es“. Der Inspektor blickte zu Anne: „Wo waren Sie vorgestern Abend zwischen 21 und 23 Uhr?“. Ihr Blut stockte in ihren Adern. Ein Zittern ergriff ihren Körper und Anne fühlte eine klirrende Kälte von ihren Füssen hochsteigen. Blitzschnell kombinierte sie und Panik begleitete die Erkenntnis, dass die Frage des Beamten nur eines bedeuten konnte: Sie wurde verdächtigt, Nick umgebracht zu haben!

„Ich war hier, bei meiner Freundin Sandra Zimmermann!“ antwortete Anne angstvoll. Sandra nickte und bestätigte Annes Aussage. Inspektor Trost bemerkte Annes Panik und versuchte sie zu beruhigen. Er erläuterte den Stand der Ermittlungen und erzählte was die Spurensicherung bis jetzt feststellen konnte. Der Fall schien recht merkwürdig. Am Tatort konnten keinerlei Spuren festgestellt werden. Einzig die Unordnung und die aufgeschlagenen Adressbücher und die Anzeige von Nicks Handy zeigte, dass die Täter scheinbar jemanden gesucht hatten. Kratzer an Nicks Handgelenken legten die Vermutung nahe, dass er an einen Stuhl gefesselt wurde und weitere Spuren an Nicks Körper zeigten darüber hinaus, dass er gefoltert wurde. „Wir vermuten, dass die Täter wollten, dass Nick den Aufenthaltsort einer ihm bekannten Person preisgibt. Anschliessend wurden ihm mehrere Stichwunden zugefügt. Er verblutete in kurzer Zeit am Tatort, ohne dass er Hilfe holen konnte.“ Anne wurde schlecht und sie kämpfte mit ihrem Magen.

Der Inspektor fuhr weiter “ Wir machen uns sorgen, dass die Mörder von Nick nach ihnen suchen! Denn warum hätte ihr ehemaliger Lebenspartner sonst diese Nachricht in seinem eigenen Blut hinterlassen sollen?“ Er machte eine kurze Pause. „Kannte er ihren jetzigen Aufenthaltsort?“ fragte der Inspektor weiter. Anne überlegte fieberhaft. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie erwähnt, dass Sie zu Sandra ginge. Da sich Nick aber nie für ihre Freunde interessierte, war sie ziemlich sicher, dass er nicht einmal wusste, wo Sandra wohnte. „Er wusste, dass ich bei meiner Freundin bin, aber ich glaube, er wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Adresse. Es interessierte ihn nie besonders, wer meine Freunde waren.“ sagte Anne. „Das könnte nun ihr Glück sein!“ raunte Inspektor Trost und kontrollierte, ob sein Assistent auch alles korrekt protokolliert hatte. Nachdem die Beamten noch einige Fragen gestellt und angekündigt hatten, dass ab sofort ein Streifenwagen vor dem Haus von Sandra postiert würde, verabschiedeten sich die beiden Polizisten.

Sandra, Anne und ihr Vater sassen schweigend in der Küche. Nach einigen Minuten sagte Anne leise: „Es geht um Raoul! Es kann nur um Raoul gehen!“. Sie erzählte ihrem Vater von Raouls Anruf und dass sie sich Sorgen machte. Annes Vater hörte zu und sie sah ihm an, dass er mehr wusste, als er bis jetzt erzählte. Langsam kamen Anne auch die Bilder vom letzten Traum wieder in den Sinn und sie erzählte ihrem Vater auch davon. Nun kam plötzlich Leben in den älteren Herrn, der Anne liebevoll anblickte. Je mehr Anne erzählte umso grösser wurden seine Augen. „Anne, was Du da geträumt hast, ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt!“ sagte er und begann zu erzählen. Anne dachte bis jetzt immer, sie hätte ihren Vater so gut gekannt, wie ein Kind seinen Vater nur kennen könnte. Aber nun wurde ihr klar, dass dies ein Irrtum war.

Er erzählte ihr davon, dass in letzter Zeit immer mehr Hinweise gefunden wurden, dass Amerika schon lange vor Columbus entdeckt wurde und es schon immer einen Austausch zwischen den verschiedenen Hochkulturen gab. Er erzählte von einer Gruppe von Forschern, die eine These entwickelt hatten, nach der die geistigen Führer, Schamanen, Weisen und Philosophen der alten Völker in Verbindung standen. Es gab sogar einige Wissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass es irgendwo auf der Erde eine antike Bibliothek mit dem Wissen der gesamten Menschheit geben müsse. Unter anderem seien dort auch Schriften aus der Bibliothek von Alexandria gelagert, welche gerettet wurden, bevor dieses riesige Archiv antiker Schriften dem Feuer zum Opfer viel.

Raouls Vater stiess vor einigen Jahren in Peru auf eine Höhle, in der er verschiedenste Schriften aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Völkern gefunden hatte, was ihn glauben liess, auf die besagte Menschheits Bibliothek gestossen zu sein. Anne hörte gebannt zu. Die Bilder ihres Traumes wirbelten wieder durch ihren Kopf. „Und was hat Raoul damit zu tun?“ fragte sie nach. „Raoul arbeitet bei seinem Vater im Team. Sie konnten in den letzten Jahren einige Schriftstücke bergen und identifizieren. Allerdings ist ein Grossteil der Höhle komplett eingestürzt und nicht mehr zugänglich. Für weitere Grabungen fehlte aber das Geld. Scheinbar hatte jemand davon erfahren, und versuchte nun, diese Höhle zu finden, was wir Wissenschaftler allerdings verhindern möchten. Dieses Erbe der Menschheit sollte nicht in die Hände eines einzelnen Staates fallen. Es soll bleiben wo es ist und erst, wenn die Menschheit soweit ist, sollte sie davon erfahren. Ich bin in einer Gruppe von Forschern, die versuchen, wissenschaftliche Ergebnisse allen Menschen zugänglich zu machen. Nicht nur einige wenige sollen von den Erkenntnissen profitieren, sondern die gesamte Menschheit.“ Anne erinnerte sich an die Tätowierung auf dem Rücken ihres Vaters. Gerade als sie ihn danach fragen wollte, klingelte Annes Handy.

Als sie auf das Display blickte, stockte ihr Atem. „Es ist Raoul!“ rief sie und klappte ihr Telefon auf, um es an Ihr Ohr zu halten. „Raoul?“ fragte sie und fuhr weiter: „hier ist Anne!“ Aber sie hörte nur ein Rauschen und Klicken. Sie fragte nochmals und ihre Stimme klang sorgenvoll:

„Raoul? Bist Du das?“

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