Fragmente 1.34 – Die Bibliothek

Photo-Credit: Luigi Guarino @ Flickr

Was bisher geschah: Intro / Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6 / Teil 7 / Teil 8 / Teil 9 / Teil 10 / Teil 11 / Teil 12 / Teil 13 / Teil 14 / Teil 15 / Teil 16 / Teil 17 / Teil 18 / Teil 19 / Teil 20 / Teil 21 / Teil 22 / Teil 23 / Teil 24 / Teil 25 / Teil 26 / Teil 27 / Teil 28 / Teil 29 / Teil 30 / Teil 31 / Teil 32/ Teil 33

Sie rannten los und erreichten mit ein paar Schritten den Eingang. Dicke, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Raoul war als erster bei der Leiter, die nach unten führte. „Los, kommt!“ rief er und Anne fasste seine Hand, die er ihr entgegen streckte. Ein zweiter Schuss zeriss die Stille der Nacht und der Monsignore schrie ausser sich vor Wut: „Ich werde Euch alle in die Hölle schicken! Bleibt stehen!“. Von der Dunkelheit geschützt kletterten sie in den unterirdischen Gang und entfernten die Leiter vom Eingang. Carlos reichte Luis und Raoul Taschenlampen aus seinem Rucksack und sie spurteten los. Allen voran lief Anne mit dem Schlüsselstein in der Hand. Sie betrachtete die Linie, die ihnen den Weg weisen sollte und befahl mit leiser Stimme in welche Richtung abgebogen werden sollte, wenn der der Gang sich hin und wieder verzweigte.

Hinter ihnen erklang plötzlich ein dumpfes Geräusch. Ein leiser Schrei signalisierte den Verfolgten, dass der Monsignore mit einem Sprung ebenfalls in den dunklen Gang eingestiegen war. „Los, weiter! Hier entlang“ flüsterte Anne und zeigte mit der Hand nach rechts in einen Tunnel, der leicht nach unten führte. „Bist Du sicher, dass wir da hinunter müssen?“ fragte Raoul. Anne antwortete nicht, sondern lief einfach los. Die Anderen folgten ihr und plötzlich endete der Tunnel in einem schachtartigen Raum. „Eine Sackgasse!“ rief Luis und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hinter ihnen hörten sie den keuchenden Atem ihres Verfolgers, der ihnen immer näher kam. Raoul leuchtete mit der Taschenlampe die Wände der Höhle ab. Der Raum hatte eine quadratische Grundfläche und schien etwa 10 Meter hoch zu sein. Anders als die Tunnel des Labyrinths schienen die Wände hier aus glatt poliertem Stein zu sein und jedes Geräusch wurde von den Wänden, wie in einem Resonanzkörper eines Instruments, verstärkt. „Hier war ich schon mal“ murmelte Anne. Aber noch bevor Sie weiterreden konnte, stiess der Monsignore zu ihnen.

„Keine Bewegung!“ schrie er und Anne blickte zu ihm hin während sich nackte Angst in Sekundenschnelle durch ihren Körper frass. Sie sah in seine schreckliche Fratze die schrecklich entstellt und verbrannt war. Der blanke Hass blitzte aus den Augen des Geistlichen und ein Fetzen der Haut seiner linken Wange hing lose herunter. Einen Moment lang fragte sie sich, ob das nur ein Alptraum war. Dann sah sie nur noch wie er seine Waffe auf sie richtete und als sich ein Schuss mit einem ohrenbetäubenden Knall löste, spürte sie nur noch, wie etwas mit einer unglaublichen Wucht in ihren Körper eindrang und sie in ein dunkles Loch stürzte.

Als Anne ihre Augen wieder öffnete, sah sie sich irgendwie selbst im schwarzen Nichts. Sie stürzte ins bodenlose. Immer weiter. Oder schwebte sie nach oben? Sie konnte sich weder bewegen, noch konnte sie überhaupt fühlen, ob sich ihre Seele noch in ihrem Körper befand. Panik überkam sie. War sie tot? Da war dieser Schuss der sie getroffen hatte. War sie stark verletzt? Sie versuchte an sich herunter zu schauen, ob sie eine Wunde entdecken konnte, doch sie konnte ihren Körper nicht wirklich erkennen. Ihre Umrisse waren nur noch als schimmernde, undefinierbare Form, als ätherische Aura vorhanden.

Plötzlich, die körperlose Stasis schien Äonen lang angedauert zu haben, wich die Stille einem Geräusch dass sie kannte. Aquila! Dann ging alles sehr schnell. Ihr Körper schien sich wieder zu manifestieren und ihr Traumgefährte tauchte unter ihr auf, um sie aus der Leere zu befreien. Sie landete auf seinem Rücken und augenblicklich fing sie sich wieder. „Aquila, bin ich gestorben?“ fragte sie ihren Freund in Gedanken. „Nein! Das bist Du nicht. Aber Du wurdest angeschossen und bist bewusstlos zusammengebrochen.“ Sie wollte wissen wie es ihren Freunden erging, doch Aquila vertröstete sie auf später. „Du hast erst noch ein wichtiges Rendezvous!“ drangen seine Gedanken in ihren Kopf. „Vater?“ Auqila bejahte und langsam sah Anne, wie die Dunkelheit um Sie herum wich. Im Leeren Raum sah sie ihren Vater in derselben Höhle sitzend, in der sie vorher angeschossen wurde. Die Wände schienen durchscheinend zu sein und Aquila blieb plötzlich in der Luft stehen und schwebte an Ort und Stelle. „Steig ab und geh zu Deinem Vater!“ drang es in ihren Kopf und Anne kletterte vom Rücken des Adlers um neben ihrem Vater wieder festen Boden unter den Füssen zu erreichen.

„Paps!“ rief sie und fiel ihm in die Arme! Sie wollte ihm so viel erzählen, aber die Sorge um ihre Freunde liess ihr keine Ruhe. Nachdem sich Anne von ihm gelöst hatte, setzte er sich wieder hin und strahlte eine Ruhe aus, die Anne fast zur Verzweiflung brachte. „Vater, ich muss zu meinen Freunden, sie sind in Gefahr! Schnell!“. Er lächelte und erklärte Anne, dass die Zeit hier in der Traumwelt anders tickte. Stunden und Tage die man hier erlebt, dauerten  auf der anderen Seite nur Minuten. „Ich muss Dir etwas Wichtiges sagen!“ fing er an und erklärte Anne, wie man den Zugang zur Bibliothek öffnen konnte. Er erzählte ihr auch von einem Sicherheitsmechanismus. Einer Falle, die den Zugang zur Bibliothek so verschliessen würde, dass sie für lange Zeit vor einem erneuten Zutritt gesichert bliebe. Anne hörte gespannt zu und versuchte sich jedes Detail genau einzuprägen. Plötzlich nahm ihr Vater ihr Gesicht zärtlich in seine Hände, küsste sie auf die Wange und sagte: „Du musst gehen!“ Wieder umschlang Anne die Dunkelheit. Nur kurz. Dann spürte sie, wie ein Sog sie zurück in ihren Körper katapultierte.

Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und nun fühlte sie auch den Schmerz ihrer Schusswunde. Ihre linke Schulter war getroffen, doch die Austrittswunde am Rücken zeigte ihr, dass es ein glatter Durchschuss war. Sie blickte um sich und registrierte sofort was in der Zwischenzeit geschehen war. Raoul, Carlos und Luis sassen gefesselt im Gang aus dem sie kamen und der Monsignore hantierte mit dem Schlüsselstein an einer Öffnung in der Wand, die dem Zugang gegenüber lag. Seine Waffe hatte sich der Geistliche hinten in den Bund seiner Hose gesteckt und er bemerkte nicht, wie Anne sich heranschlich. Mit einer raschen Bewegung packte sie den Revolver, entsicherte und hielt ihn dem keuchenden Monster an den Hinterkopf.

„Was zur Hölle…“ rief er überrascht und wollte sich umdrehen. Doch Anne hiess ihn so stehen zu bleiben. „Legen sie den Schlüsselstein schön langsam auf den Boden und gehen sie dann ein paar Schritte zurück.“ Er zögerte, doch Anne drückte ihm den Lauf der Waffe noch stärker ins Genick. „Ich zögere keinen Augenblick abzudrücken!“ rief sie. „Schön langsam hinlegen“ wiederholte sie und der Monsignore gehorchte widerwillig. Dann befahl ihm Anne, die Fesseln von Raoul zu lösen, was er ebenfalls tat. Raoul verfolgte staunend wie souverän seine Geliebte die Situation meisterte. „Los Raoul, mach Deinen Mund wieder zu und fessle den Mistkerl!“ lachte Anne nun sichtlich über Raouls Gesichtsausdruck amüsiert. Raoul tat was Anne sagte und Minuten später lag der Monsignore gefesselt am Boden, während die anderen sich befreiten und zu Anne hingingen. „Du blutest stark!“ sagte Raoul besorgt und griff in seinen Rucksack, in den er auch Verbandsmaterial für den Notfall gestopft hatte, was Anne nun zugutekam. Er versuchte ihre Wunde so gut wie möglich zu verbinden. Aber es war beiden klar, dass Anne baldmöglichst in ein Krankenhaus musste. „Ich weiss, wie wir die Bibliothek öffnen können!“ raunte Sie Raoul zu. Auch Carlos und Luis hatten das gehört und kamen dazu. „Was müssen wir tun?“.

Anne erklärte, dass sich in jeder Wand eine kleine Nische befinden musste, in der sich eine Art Flöte befand. Würden diese in einer bestimmten Abfolge gespielt, so dass alle Töne zusammen am Schluss einen Akkord ergaben, würde sich das Tor öffnen. „Und was ist mit der Öffnung für den Schlüsselstein?“ wollte Carlos wissen und zeigte auf eine Einbuchtung in der Wand, in die das angesprochene Artefakt perfekt zu passen schien. „Eine Falle!“ erklärte Anne mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht. Raoul wollte wissen, was denn passiere, wenn jemand den Schlüsselstein da einfügen würde. Doch Anne wusste auch nicht mehr, als dass der Eingang der Bibliothek dann für lange Zeit so verschlossen würde, dass niemand ihn öffnen konnte. „Gut!“ meinte Raoul und fügte an: „genau das werden wir nachher tun! Doch erst möchte ich mich vergewissern, dass die Bibliothek noch immer existiert. Wollen wir sie öffnen?“. Anne nickte.

Sie tasteten die Wände des Schachtes ab und tatsächlich waren die Nischen mit den Flöten bald gefunden. Es waren vier röhrenartige Gebilde aus einem schimmernden Metall. Anne zeigte den anderen wie die Flöten gespielt werden mussten und führte das Rohr an ihre gespitzten Lippen um Luft in die horizontale Öffnung zu blasen. Ein panflötenartiger Ton erklang. Nun gab Anne die Zeichen welche Flöte in welcher Reihenfolge angespielt werden sollte. Erst gab Luis seinen Ton, dann kam der von Raouls Flöte, dann der von Carlos und am Schluss der vierte Ton von Annes Instrument dazu. Der Akkord schien genau auf die Resonanz des Raumes abgestimmt zu sein und der Klang verstärkte sich durch Hall der Wände und wurde immer lauter und stärker.

Die Luft begann zu vibrieren und plötzlich erklang ein dumpfes Geräusch.

Weiter mit dem Schluss der Geschichte: Fragmente 1.35 – Einmal bis zur Ewigkeit und zurück

Fragmente – 1.33 Der Eingang

Foto-Credit Originalbild: Bruno Girin @ Flickr
Bearbeitet von Stoeps

Was bisher geschah: Intro / Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6 / Teil 7 / Teil 8 / Teil 9 / Teil 10 / Teil 11 / Teil 12 / Teil 13 / Teil 14 / Teil 15 / Teil 16 / Teil 17 / Teil 18 / Teil 19 / Teil 20 / Teil 21 / Teil 22 / Teil 23 / Teil 24 / Teil 25 / Teil 26 / Teil 27 / Teil 28 / Teil 29 / Teil 30 / Teil 31 / Teil 32

Ein Schrei zerriss die modrig duftende Dunkelheit in dem Labyrinth unter der Ebene von Nazca. Eine Blutspur führte vom Einstieg im Haus bis zu der Kreuzung in den Gängen, in denen der hustende Verfolger sein unrühmliches Ende fand. Am Rande des Abgrunds kniete ein älterer Mann mit kurzgeschnittenen Haaren und einer schlichten Nickelbrille, deren rechtes Glas fehlte und deren linkes Glas gesprungen war. Seine dunkle Kleidung war zerrissen, angesengt und stank nach Schweiss, Benzin und Blut. Sein Gesicht und seine Hände waren durch frische Verbrennungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.  Der Monsignore starrte in den Abgrund und blickte auf den verbogenen und aufgespiessten Leichnam seines treuen Helfers.

Er hatte Fernando schon vor über 30 Jahren in Barcelona auf einer Studienreise kennen gelernt. Der kleine Waisenjunge sass damals bettelnd beim Eingang zum Innenhof des alten Hospital de la Santa Creu I Sant Pau. Mit seinen flehenden Augen bewegte er das Herz des damals noch jungen Theologiestudenten, der nicht anders konnte und dem Jungen etwas zu essen kaufte. Jeden Tag aufs Neue, wenn der junge Geistliche durch den Carrer de l’Hospital ging, begegnete er Fernando und sie begannen sich anzufreunden. Als der Monsignore Barcelona verliess, nahm er den Jungen mit. Fernando wurde sein Schützling und Diener und zum treuen Begleiter des Geistlichen. Er  wich auch dann nicht von seiner Seite, als dieser den Pfad der Menschlichkeit verliess. Er war seinem Retter gegenüber derart loyal und verfallen dass er nicht einmal davor zurückschreckte für ihn zu töten.

„Fernando…no!“ raunte der Monsignore röchelnd in den Abgrund. In ihm kämpfte die Verzweiflung die ihm zuflüsterte, dass er sich nur fallen zu lassen brauche um wieder bei Fernando zu sein. Für immer! Aber da war auch die Wut, die ihm diese sich immer und immer wiederholenden Worte in den Kopf pflanzte: „Töte sie! Räche Fernando!“ Da ging ein Ruck durch seinen Körper. Urplötzlich und mit einer Kraft die aus dem Nichts zu kommen schien, sprang er auf und schrie. Seine Wut hatte gesiegt und er gab seinem toten Freund ein letztes Versprechen: „Sie werden sterben, ich werde sie für deinen Tod büssen lassen! Ich werde sie alle in die Hölle schicken! Langsam gingen die Batterien von Fernandos Lampe, die noch immer auf dem Boden des Abgrundes lag, zur Neige. Das Licht erlosch und tauchte das Labyrinth wieder in seine modrige Dunkelheit.

„Der Kaffee duftet ja verführerisch!“ sagte Anne den Speisesaal betretend und begrüsste Margaretha mit einem Kuss auf die Wange. „Guten Morgen, Du Schlafmütze!“ grinste Carlos und Luis stopfte sich gerade eine Gabel mit Rührei in den Mund. „Setz Dich! Hast Du gut geschlafen?“ fragte Raoul und zog Anne zärtlich auf den freien Stuhl neben ihm. Anne lächelte. Da war sie nun. Ihre neue Familie.  Sie war schon lange nicht mehr so entspannt und glücklich. Sie setzte sich an den Tisch und blickte zufrieden in die Runde. „Rührei?“ fragte Pedro, der gerade aus der Küche kam und Anne nickte dankbar! „Gerne! Ich habe einen Mordshunger!“ fügte sie an und alle lachten.

Das Frühstück zog sich bis zum Mittag hin und es wurde darüber diskutiert, was denn nun als nächstes zu tun sei. Margaretha erläuterte ihre Vermutung, wo die Bibliothek sich befinden könnte und breitete eine Karte auf dem nun abgeräumten Tisch aus. Anne beschrieb nochmals ihren Traum, in dem sie ihren Vater vor den lehmigen Hügeln von Túcume gesehen hatte. Raoul ging nach oben und kam mit dem Schlüsselstein zurück. Es war eine flache Steinplatte in deren Mitte sich eine Öffnung in der Grösse und Form des Kartensteins befand. Die Platte war mit Symbolen und Linien verziert, die wohl eine Beschreibung dessen waren, was mit dem Schlüssel zu tun sei. Anne holte nun die Replik des besagten Kartensteins und sie versuchten die beiden Artefakte zusammen zu fügen, was auch gelang. Raoul betrachtete das Bild der Symbole und Linien eingehend und erkannte, dass es sich wiederum um eine Karte handeln müsste. „Wenn wir den richtigen Eingang zur Pyramide finden würden, müssten wir es schaffen zu diesem Raum vordringen zu können. Dort endet der Weg, der hier beschrieben ist!“ sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Ende einer Linie, die vom äusseren Rahmen in die Mitte des Kartensteins führte. Die Anderen nickten zustimmend!

„Wie lange werden wir bis nach Túcume brauchen?“ fragte Anne in die Runde und es war ihr anzumerken, dass die Abenteuerlust wieder in ihr aufloderte. Margaretha erklärte ihnen den Weg der Küste entlang und erläuterte, dass sie wohl etwa mit zehn bis zwölf Stunden Fahrzeit zu rechnen hätten. „Wir können da aber nicht einfach so auf das Ausgrabungsgelände spazieren und in eine der Pyramiden eindringen!“ mischte sich Luis nun in die Diskussion. Doch Margaretha hatte schon einen Plan. Sie kannte den Chef der Security-Firma, die das Gelände nachts bewachten und würde versuchen, ihn zu erreichen. Er war ein Freund der Familie und wenn sie ihm klar machen konnte, dass sie keine Diebe waren, die Fundstücke aus dem Gebiet entwenden wollten, würde er sicher bereit sein, ein Auge zuzudrücken.

Anne wurde unruhig. Sie wollte nicht länger warten und rief: „Wenn wir jetzt losfahren, könnten wir etwa Nachts um zwei Uhr dort sein.“ Den Anderen waren die Strapazen und Gefahren des letzten Abenteuers noch zu gut in Erinnerung und die Müdigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Anne gelang es Raoul, Carlos und Luis zu überzeugen. Sie würden sich bei der Fahrt abwechseln. Wenn jeder drei Stunden fahren würde, könnten die anderen etwa 9 Stunden Schlaf bekommen, was nach Annes Meinung mehr als genug war! Luis wollte widersprechen. Er fand, es wäre auch früh genug,  am nächsten Tag zu starten. Doch Carlos stand bereits lächelnd mit gepacktem Rucksack neben ihm und Margaretha kam mit zwei Thermoskrügen gefüllt mit frischem, starkem Kaffee aus der Küche. Sie blickte zu ihrem Sohn und hiess ihn freundlich Ersatzbatterien und neue Taschenlampen aus dem Keller zu holen. Und noch ehe Luis so richtig bewusst wurde, dass er überstimmt wurde, sassen Sie bereits im Auto auf der Fahrt Richtung Túcume.

Carlos übernahm das Steuer als Erster, während Luis auf dem Beifahrersitz eingenickt war. Die Sonne schien über dem Meer, das so unendlich weit und friedlich zu sein schien. Das Auto glitt auf der Panamericana Norte und brachte die Gruppe dem Ende ihres Abenteuers immer näher. Auf dem Rücksitz studierten Anne und Raoul den Schlüsselstein und Anne zeichnete auf einem Plan des Geländes mit den Pyramiden den Standort ein, wo sie ihrem Vater im Traum begegnet war. Langsam wurde es Nacht und nachdem auch Luis seine drei Stunden als Fahrer absolviert hatten, wechselte Anne ans Lenkrad. Aus dem leise gestellten Radio klang peruanische Musik und Anne musste lächeln, als plötzlich „El Condor Pasa“ erklang. Wie es wohl Aquila erging? Spürte er drüben in der Traumwelt, dass sie ihrem Ziel immer näher kamen? Anne musste sich konzentrieren. Es war nun dunkle Nacht und die Scheinwerfer der entgegen kommenden Fahrzeuge blendeten sie. Ein bekanntes Gefühl machte sich plötzlich in ihrem Magen breit. Dieser Wagen mit dem kaputten Scheinwerfer, den Sie im Rückspiegel sah, war das nicht der gleiche, der schon kurz nach der Wegfahrt bei Margarethas Pension hinter ihnen fuhr?

Sie versuchte den Gedanken abzuschütteln. Das konnte nicht sein! Sie rechnete fest damit, dass ihre Verfolger tot oder zumindest unschädlich gemacht waren. Vor allem denjenigen mit dem Husten hatten sie doch mit eigenen Augen sterben sehen. Als Raoul das Steuer übernahm erzählte sie ihm nichts von ihren beunruhigenden Gedanken.  Aber Schlaf fand sie auch keinen mehr. Zu fest pochte dieses Knäuel in ihrer Magengegend und sandte Signale an ihr Gehirn, welches die Adrenalinausschüttung ankurbelte. Anne wollte es nicht wahr haben, aber ihre Intuition betrog sie nicht!

„Wir sind da!“ flüsterte Raoul und weckte Anne mit einem sanften Kuss. Sie hatte es doch noch geschafft eine Stunde in traumlosen Schlaf zu versinken. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer, die ihm Margaretha mitgegeben hat. „Señor Fuentes? Wir sind da! Wo können wir unseren Wagen abstellen?“ fragte Raoul auf Spanisch und hörte sich die Anweisung des Security-Chefs aufmerksam an. „Bueno!“ beendete er das Gespräch und legte auf. Er fuhr zu einem Container am Rande des Geländes und parkte sein Auto. Anne weckte nun auch Carlos und Luis und die vier stiegen aus, packten ihre Ausrüstung und gingen zum vereinbarten Treffpunkt. Anne lauschte in die Nacht und wieder zog sich ihr Magen warnend zusammen, als sie hörte, wie ganz in der Nähe eine Autotür ins Schloss fiel.

Der Bekannte von Margaretha nahm sie in Empfang und Anne zeigte ihm die Stelle auf der Karte, wo sich der Eingang zum unterirdischen Gang befand, der sie zu der Bibliothek führen sollte. Er nickte und bat die Truppe ihm zu folgen. Und tatsächlich standen sie nach etwa 15 Minuten Fussmarsch an der Stelle, wo Anne im Traum ihren Vater getroffen hatte. Bei einer aktuellen Ausgrabung wurde auch tatsächlich ein Zugang zu einem Tunnel freigelegt und Señor Fuentes beleuchtete mit seiner starken Lampe in diese Richtung. „Also los!“ raunte Anne verschwörerisch und die Gruppe machte sich auf den Weg zum Einstieg.

„Halt! Bleiben Sie sofort stehen!“ Eine Stimme zerriss die gespenstische Stille der Nacht und Anne wusste sofort, wer da aus dem dunklen Nichts auftauchte. „Der Monsignore“ flüsterte sie den anderen zu. „Halt oder ich schiesse!“ meldete sich der verwirrte Geistliche erneut! Señor Fuentes drehte sich, um mit den Verfolger mit seiner Taschenlampe zu suchen.

Plötzlich peitschte ein Schuss durch die Nacht. Fuentes gab einen röchelnden Laut von sich, drehte sich um die eigene Achse und fiel der Länge nach, die Taschenlampe unter sich begrabend, zu Boden. Dunkelheit umhüllte Anne und ihre Freunde. Und für einen Moment schien sich die Erde nicht mehr zu drehen.

„Lauft!“ brüllte Anne!

Weiter mit Fragment 1.34 – Die Bibliothek

1.31 – Die Wendung

Photocredit: Bruno Girin @ flickr.com

Was bisher geschah: Intro / Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6 / Teil 7 / Teil 8 / Teil 9 / Teil 10 / Teil 11 / Teil 12 / Teil 13 / Teil 14 / Teil 15 / Teil 16 / Teil 17 / Teil 18 / Teil 19 / Teil 20 / Teil 21 / Teil 22 / Teil 23 / Teil 24 / Teil 25 / Teil 26 / Teil 27 / Teil 28 / Teil 29 / Teil 30

„Ich will den Schlüsselstein!“ rief der hustende Verfolger und zielte mit dem Lauf der Pistole auf Anne. Ein kaltes Gefühl der Angst und Wut kroch erneut in ihr hoch, doch diesmal wusste sie, dass sie mehr als Glück benötigte um aus dieser Situation zu entfliehen. Anne stellte sich unwissend. „Was für einen Schlüsselstein?“ fragte sie und versuchte dabei möglichst unschuldig zu wirken. „Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Geben sie mir den Stein oder ich knalle sie ab!“ rief er. Anne sah keinen anderen Ausweg und zog ihren Rucksack aus, um den Stein daraus hervor zu holen. Raoul, Carlos und Luis standen wie versteinert daneben und sahen Anne zu, wie sie zitternd in die Tasche griff. Sie zog den Stein hervor und hielt in hoch. „Nein, nicht den Kartenstein, ich habe selbst eine Replik davon. Ich will den Schlüsselstein! Die Platte, in die der Kartenstein eingefügt werden muss!“ rief der Mann und fuchtelte mit der Pistole. „Ich habe den Schlüsselstein nicht!“ rief Anne wahrheitsgemäss! „Sie nicht, aber er hat ihn!“ rief der Kerl und zeigte nun mit der Waffe auf Raoul. „Los, geben sie mir den Stein, aber etwas plötzlich. Oder soll ihre Freundin hier sterben?“ rief er und zielte wieder auf Anne.

„Raoul, nicht!“ rief Anne. Doch Raoul konnte nicht anders. Er sah keinen Ausweg und wollte sie auf keinen Fall in Gefahr bringen. Er zog seinen Rucksack aus um das Artefakt daraus hervor zu holen. Er wickelte die Steinplatte mit der Öffnung in Form des Kartensteins aus einem Stoff und hielt sie mit beiden Händen in die Luft.  „Werfen Sie mir den Stein herüber, los!“ schrie der Verfolger und fuchtelte wild mit der Knarre herum. „Halt, nein! Die Platte wird in Stücke brechen, wenn er sie wirft!“ rief Anne dazwischen. In ihr keimte eine verwegene Idee. „In Ordnung, legen Sie den Stein vor sich auf den Boden und treten Sie zwei Meter zurück!“ rief der Verfolger. „Los, mach schon!“ raunte Anne und zwinkerte Raoul verwegen zu. Er begriff sofort und legte den Stein vor sich auf den Boden und sie traten alle zwei Meter zurück. „Stehen bleiben! Wehe sie versuchen abzuhauen! Ich werde schiessen, wenn sie nicht gehorchen!“ rief der Hustende.

Die Vier warfen sich vielsagende Blicke zu. Auch Luis und Carlos hatten erkannt, was Anne im Schilde führte. Sie blickten gespannt auf den Mann mit der Waffe in der Hand, der nun auf sie zukam. Doch Annes Idee schien nicht zu funktionieren. Er ging ein, zwei, drei Schritte auf dem federnden Boden in ihre Richtung und nichts passierte. Anne beschlich wieder dieses lähmende Gefühl der Angst. Doch plötzlich krachte es. Das Geräusch von berstendem Holz und ein kehliger Schrei durchschnitten die dunkle Szenerie. Ein Schuss löste sich aus der Pistole, gefolgt von einer gespenstische Stille, die nur eine ewig lange Sekunde dauerte und die von einem widerlichen Krachen und einem erneuten Schrei, der in einem gurgelnden Laut erstarb, abgelöst wurde.

Raoul ging langsam zwei Schritte nach vorne und blickte in das tiefe, dunkle Loch, das nun vor ihnen klaffte. „Er ist tot!“ rief er. Die anderen kamen zu ihm und blickten in die Öffnung. Im Schein von Raouls Stirnlampe sahen sie den seltsam verbogenen Körper, der in etwa 10 Meter Tiefe auf spitzigen Holzpfählen aufgespiesst lag. Die Lampe des Toten lag auf dem Grund des Schachtes und tauchte das Bild in ein unheimliches Licht. „Los, schnell, lasst uns abhauen, wer weiss, ob er der einzige Verfolger war!“ rief nun Luis. Raoul packte den Schlüsselstein wieder ein und sie liefen zurück in den letzten Raum. Dort nahmen sie den anderen Weg und passierten die Kreuzung wie geplant.

Der Weg neigte sich nun spürbar nach oben und die frische Luft, die ihnen entgegen blies, zeigte an, dass sie bald am Ende ihres Aufstiegs ankommen würden. Doch der Tunnel endete ohne Ausgang. Die Decke schien eingestürzt zu sein. „Die Tür, die keine ist!“ flüsterte Anne und sie beschrieb Raoul, was sie in ihrem Traum gesehen hatte. Sie versuchten, in der Mitte beginnend, die kleineren Steine weg zu schieben und mit gemeinsamer Kraft schafften sie es auch, die letzten beiden Steinplatten aus dem Weg zu räumen. Das Bild, in das sie bei ihrem Ausstieg eintauchten, raubte ihnen fast den Atem. Der neue Tag war im Begriff die Ebene von Nazca in ein sanftes Licht zu tauchen und während der Himmel von Osten her immer heller wurde, stieg die Gruppe über eine Leiter, die schon seit Urzeiten dort zu sein schien, wieder zurück an die Oberfläche.

„Du hattest recht, Anne!“ sagte Raoul und nahm sie in seine Arme! „Deine Träume haben uns gerettet!“ fügte er an und die Vier setzten sich erst mal hin um eine kleine Verschnaufpause einzulegen. Über ihren Köpfen kreiste ein Adler und Anne dachte an Aquila. „Danke mein Freund!“ rief sie ihm im Geiste zu und prompt kam die Antwort in Form eines Gedanken zurück: „Bitte, aber Eure Reise ist noch nicht zu Ende! Findet die Bibliothek und sorgt dafür, dass sie geschützt bleibt!“. Der Gedanken hallte in Annes Kopf und ihr wurde klar, dass sie erst den ersten Teil des Abenteuers bestanden hatte.

„Wie kommen wir zurück zu Margaretha?“ fragte Anne plötzlich in die Runde. „Na mit unserem Auto!“ lachte Carlos. „Es steht unten auf der Rückseite des Hauses. Wir müssten etwa in 20 Minuten dort sein. Über der Erde ist die Strecke nur halb so lange!“ fügte er an und stand auf. „Los kommt!“ sagte er und ging los, während die anderen sich hinter ihm aufrafften um ebenfalls die Rückreise anzutreten.

Als sie im Auto sassen und auf dem Rückweg nach Lima waren, erzählte Raoul, was alles passiert war und wie sie den Schlüsselstein in einem der Räume da unten gefunden hätten. Anne erzählte, dass sie eine Idee hätte, wo die Bibliothek sein könnte. Dass sie davon geträumt hatte und Margaretha aufgrund ihrer Beschreibung ein Kultort der Lambayeque vermutete.

Carlos steuerte das Auto und hörte aufmerksam zu, während Luis auf dem Beifahrersitz eingenickt war. Immer wieder blickte Anne durch das Heckfenster des Wagens um sicher zu sein, dass sie nicht verfolgt würden. Aber da war nichts. Kein anderes Auto war hinter ihnen zu sehen und langsam konnte auch Anne sich entspannen. Sie legte ihren Kopf an Raouls Schultern, der seinerseits seinen Arm um sie legte und bald schlief sie ein. Sie versank in einer wohligen Dunkelheit und fühlte sich in Sicherheit. Ein Gefühl, dass sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte. Die Dunkelheit um sie herum löste sich auf und sie spürte den Wind in ihrem Gesicht. „Aquila!“ rief sie und Freundtränen kullerten über ihr Gesicht. Sie spürte die kräftigen Muskeln seiner Flügel unter ihrem Körper und blickte strahlend vor Freude auf die Landschaft unter ihr.

Sie verliessen die Ebenen von Nazca und steuerten Nordwärts. Anne entdeckte unter sich Lima und vermutete, dass sie bei Margaretha landen würde, doch Aquila gab ihr zu verstehen, dass die Reise weiter nordwärts gehen würde zu einem Ort namens Túcume. Nachdem sie Chiclayo unter sich passiert hatten, tauchte Aquila ab und landete an einem unwirklich scheinenden Ort. Es gab hier grosse Hügel, deren Beschaffenheit sonderbar geometrisch schienen und Anne kombinierte schnell, dass es sich hier um die Überreste der besagten Lambayeque Kultur handeln musste. Einige Ausgrabungsstätten zeugten ebenfalls davon. Aquila landete genau vor einem der Hügel und stieg ab. Sie sah sich um und bald entdeckte sie jemanden, der ihr sehr bekannt vorkam. Freude erfüllte ihr Herz und sie lief mit geöffneten Armen auf ihn zu. „Paps“! rief sie und der Mann winkte ihr zu. Er stand vor einem der lehmigen Hügel und freute sich sichtlich darauf, seine Tochter in die Arme zu nehmen! Doch einmal mehr schaffte es Anne nicht, einen geliebten Menschen im Traum zu umarmen. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, veränderte sich die Szenerie. Links neben ihm öffnete sich der Hügel und die entstehende Öffnung schien alles in sich hineinzuziehen. Auch Anne konnte sich nicht gegen den Sog wehren und wurde von der Dunkelheit verschluckt.

Weiter mit Fragmente 1.32 – Das Wiedersehen