Fragmente 1.24 – Margaretha

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Photographer: encotrado.es, bearbeitet von Stoeps under CCLicense

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Sie standen vor einem kleinen, blauen Haus, mit einer kleine Veranda und einem eingezäunten Vorgarten. Neben der Tür prangte in grossen blau-goldenen Lettern das Wort PENSIÓN. Auf der Veranda standen ein paar Tische und Stühle und luden zum Verweilen ein. Pedro half Luis und Anne das Gepäck aus seinem Wagen zu holen und führte die beiden ins Haus. Durch die vergitterten Fenster drang das Tageslicht in den Empfangsbereich, der aus einem Raum mit einer antiken Couch  und einer Theke bestand. Hinter der Theke führte eine schmale Tür ein einen weiteren Raum. Durch den Perlenvorhang, der die offene Tür zierte, konnte Anne einen alten Schreibtisch und ein Büchergestell entdecken. Der Tisch war mit Stapeln von Papier übersäht und das Regal war mit viel zu vielen Büchern und Ordnern vollgestopft. Aus einem kleinen, scherbelnden Transistorradio drang Musik in das Entré.

Pedro betätigte die Klingel, welche auf dem Tresen stand und rief „Margaretha!“. Das Rücken eines Stuhles und langsame Schritte kündigten die Gastgeberin an. Hinter dem Perlvorhang erschien eine grossgewachsene, schlanke Frau. Ihre Haut war braungebrannt und zwei grüne, wache Augen strahlten aus einem Gesicht, dass Anne sofort faszinierte. Hochstehende Wangenknochen, eine wohlgeformte Nase, eine hohe Stirn, eingerahmt von silbergrauen, kaum zu bändigenden Locken begann zu leuchten, als Margaretha erkannte, wer sie da besuchte. „Pedro!“ rief sie sichtlich erfreut und die beiden umarmten sich herzlich. „Wen hast Du mir da mitgebracht?“ fragte sie, sobald sich die beiden begrüsst hatten. „Das ist ein Geheimnis! Die beiden benötigen Deinen Schutz und Deine Hilfe. Niemand darf erfahren, dass sie hier sind, am allerwenigsten die Polizei!“ erläuterte Pedro verschwörerisch.

Gespannt beobachteten Anne und Luis die Szene und Anne versuchte im Gesicht der Frau zu lesen, was diese von Pedros Ankündigung hielt. Margaretha baute sich vor Pedro auf, stemmte ihre Arme in die Hüften und setzte einen gespielt ernsten Blick auf. „Ein Spezialauftrag also?“ fragte sie und ein verschmitztes Lächeln eroberte ihre Augen. Pedro nickte. „Die beiden sind auf der Suche nach ihren Liebsten und sind dabei einem Geheimnis auf der Spur, das bewahrt werden muss! Es ist für uns alle von entscheidender Wichtigkeit, dass sie unerkannt und in Freiheit bleiben. Möglicherweise wirst Du ihre Gesichter schon in den Nachrichten gesehen haben. Lass Dich nicht von den Lügen der Medien blenden! Die beiden sind absolut harmlos und unschuldig. Die Verbrechen, die man ihnen anlastet, sind eine Lüge!“

Margaretha hörte interessiert zu und nickte immer wieder. „Alles klar!“ meinte sie dann und zu Anne und Luis gewandt „Ihr seid hier in Sicherheit! Ich werde Euch hier solange verstecken, wie ihr bleiben wollt!“. Sie schritt auf Anne zu, streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor: „Ich bin Margaretha, Pedros Mutter und Besitzerin dieser Pension.“ Anne schüttelte ihre Hand mit einem dankbaren Lächeln und stellte sich ihrerseits vor: „Mein Name ist Anne Kammermann und ich befinde mich auf einer Reise, von der ich selbst nicht weiss warum sie begann und wohin sie mich am Ende führt!“. In Margarethas Augen blitze etwas auf, Ihre Stirn kräuselte sicher erst, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und irgendwo, tief in ihrer Seele vergraben, schien etwas längst Vergessenes für einen Moment aufgetaucht zu sein.

Sie begrüsste auch Luis und führte die beiden in den ersten Stock, wo sie ihnen je ein Zimmer zuwies. „Richtet euch erstmal ein und macht euch frisch“ sagte sie und half Anne dabei, ihren Koffer in ihr Zimmer zu tragen. „Ich nehme an, dass ihr hungrig seid?“ fragte sie und erntete ein heftiges Kopfnicken von ihren beiden neuen Gästen. „Ich werde etwas für Euch kochen! In zwei Stunden gibt es Nachtessen unten im Speiseraum!“ kündigte sie feierlich an und liess Anne und Luis alleine. Die beiden nickten sich gegenseitig zu und Anne flüsterte zu Luis, dessen Zimmer sich genau gegenüber befand: „Und, was denkst Du? Sind wir hier sicher?“ Luis nickte „Ja ich denke schon! Ich vertraue Pedro und wie es aussieht, vertraut Pedro seiner Mutter.“ Anne nickte ebenfalls und war froh, wenigstens für den Moment nicht auf der Flucht sein zu müssen. „Ich nehme jetzt erstmal eine Dusche und mache mich frisch!“ sagte sie anschliessend zu Luis. Er lächelte sie lausbübisch an und frotzelte „Vielleicht ziehst Du danach etwas anderes an? Die Stewardessenuniform ist irgendwie nicht so das richtige Outfit hier!“ Anne lachte und schloss die Tür hinter sich.

Selten hatte sie sich nach einer Dusche so erfrischt gefühlt wie jetzt! Sie stand, das Handtuch um den Körper geschlungen, vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete sich selbst. Langsam wuchsen ihre dunklen Haare nach und verdrängten das gefärbte Blond. Sie überlegte sich, ob sie sie wieder dunkel färben sollte. Das würde hier auch weniger auffallen. Die Menschen hier hatten fast alle schwarzes Haar. Mit hellem Haar fiel man hier unweigerlich auf. Anne entschied sich spontan dazu und nahm sich vor, Margaretha zu fragen, wo sie hier ein Haarfärbemittel kaufen könne. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, fand sie endlich Zeit ihr Gepäck zu inspizieren. Das allerwichtigste war natürlich nachzuprüfen, ob der Stein noch da war. Sie öffnete den Koffer und tatsächlich: Die Replika des Kartensteines lag noch immer in der Mitte der Kleider und war unversehrt. Sie atmete auf.

Beruhigt legte sie sich für einen Moment auf das Bett. Vor ihrem inneren Auge tauchte plötzlich wieder Margarethas Gesichtsausdruck auf, den sie bekam, als Anne sich vorgestellt hatte. Sie fragte sich, was für eine Erinnerung ihr Name bei Pedros Mutter geweckt hatte. Sie ahnte, dass es kein Zufall war, Margarethe begegnet zu sein. Zufälle, das wurde ihr nun schon zum wiederholten Male klar, gab es wohl keine. Alles machte irgendwie Sinn, auch wenn dieser nicht immer sofort zu erkennen war. Aber wie so oft konnte sich Anne nicht vorstellen, was diese Begegnung für sie bereithalten würde. Aber sie fühlte, dass es etwas hilfreiches sein musste, denn sie fühlte sich bei Margaretha in Sicherheit. Pedros Mutter strahlte etwas aus, dass ihr gut tat und dass ihr Geborgenheit vermittelte. Urplötzlich fiel ihr auf, dass Margaretha perfekt Deutsch gesprochen hatte. Sie fragte sich, wieso sie das vorher gar nicht bemerkt hatte. Sie hatte es einfach als selbstverständlich angenommen. Pedro sprach ja ebenfalls Deutsch. Anne wusste, dass es in Lateinamerika Nachfahren von deutschen Auswanderern gab. Sie ging davon aus, dass Margaretha und Pedro aus einer dieser Familien stammten. Sie nahm sich vor  Margaretha beim Abendessen, das dem Duft nach bald fertig sein würde, danach zu fragen.

Anne war müde. Am liebsten wäre sie gleich unter die Bettdecke geschlüpft, um sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Aber der Hunger und die Fragen die sie an Margaretha hatte, hielten sie wach und machten sie neugierig. Sie stand auf, zog sich ein paar Jeans und ein frisches T-Shirt an, ging aus dem Zimmer und klopfte an Luis Tür. Er öffnete und bat sie herein. „Endlich in Sicherheit und erst noch frisch geduscht!“ sagte er lachend und Anne nickte lächelnd zurück. „Hast Du Hunger?“ fragte sie und er antwortete ihr, dass er einen Bären verdrücken könne. „Lass uns herunter gehen und sehen, ob wir beim Tisch decken helfen können“ sagte Anne und setzte sich in Bewegung. Luis folgte ihr.

Sie stiegen die knarrende Treppe hinunter und betraten den Raum, der als Speisezimmer diente. An den Fenstern hielten schwere Vorhänge die Blicke neugieriger Passanten fern. Die Wände waren in der unteren Hälfte im gleichen Blau wie das der Aussenwände und ab etwa 1.50 m in Weiss gestrichen. Die Decke wurde von urigen Holzbalken getragen. Im Raum standen 6 Holztische, doch nur einer davon war für 3 Personen gedeckt. „Ob Margaretha nicht mit uns essen wird?“ wandte sich Anne an Luis, der nur mit den Schultern zuckte und sich ratlos umsah. Auch Anne begann sich umzusehen und entdeckte plötzlich eingerahmte Fotos an der Wand, die an die Küche grenzte.

Sie ging näher um sich die Bilder anzusehen. Mit einem Male blieb ihr fast der Atem weg. „Luis, schau Dir das doch mal an!“ drehte sie sich zu ihrem Begleiter um und er kam näher um sich Annes Entdeckung anzusehen. Er konnte aber auf dem Bild nichts Aussergewöhnliches entdecken. Es zeigte zwei Männer und eine Frau. Als er näher hinsah, erkannte er, dass die Frau Margaretha in jüngeren Jahren hätte sein können. „Da“, er zeigt mit dem Finger auf sie „Ich glaube das ist Pedros Mutter!“. Anne nickte „aber sie ist nicht die einzige, die ich erkannt habe!“ flüsterte sie Luis zu.

Er schaute Anne neugierig an, doch bevor er nachfragen konnte, wen Anne erkannt hatte, trat Margaretha mit einem Topf dampfender Suppe in den Raum. „Essen ist fertig!“ sagte sie feierlich. Anne und Luis setzten sich. Doch zum Hunger, der in Annes Bauch tobte, gesellte sich noch ein anderes Gefühl. Neugierde! Der Anstand gebot Anne, ihre Gastgeberin nicht gleich mit Fragen zu belästigen, sondern erst einmal das gut duftende Mahl zu würdigen. Es schmeckte herrlich! Doch Anne konnte sich kaum darauf konzentrieren.

Die Gedanken in ihrem Kopf rasten einmal mehr rastlos umher und eine Frage drang immer deutlicher in den Vordergrund: Wer war Margaretha?

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Fragmente 1.23 – Gibt es Gott?

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Anne legte ihren Kopf an Luis Schultern und schmiegte sich an. Luis legte seinen Arm um sie und betrachtete Anne bewundernd. Er hatte höchsten Respekt vor dieser starken Frau und fühlte sich sehr wohl in ihrer Gesellschaft. Die Fahrt zur Pension von Pedros Grossmutter, am südlichen Stadtrand, würde noch eine geraume Zeit dauern und Anne war froh, Luis bei sich zu haben. Langsam entspannte sie sich und wärend draussen Häuser, Autos und Menschen vorbeizogen, fielen Annes Augen zu. Sanfte, warme Dunkelheit umfing sie aus deren Tiefen bald tanzende Bilder in ihr Bewusstsein drangen.

Eine wunderschöne Landschaft manifestierte sich langsam in ihrem Geist. Sie stand auf einer Anhöhe und blickte auf einen Abhang hinunter, der von Menschen durch das Anlegen von Terassen und Wasserversorgungssystemen in blühende Gärten und Felder verwandelt worden war. Hinter ihr erhoben sich Mauern, die eine Stadt in den Felsen bildete. Das bekannte Geräusch von Luft, das von grossen Flügeln rauschend bewegt wurde, näherte sich und Annes Herz füllte sich mit Freude. „Aquila“ rief sie und der Adler landete neben ihr. „Steig auf, wir werden eine Reise machen und jemanden besuchen, der Dich sehr vermisst!“ drang die telephatisch gesandte Botschaft von Aquila in Annes Bewusstsein. „Paps!“ rief Anne freundestrahlend und stieg auf den Rücken ihres Traumbegleiters. „Nicht wahr, wir werden Paps besuchen?“ fragte Anne und Aquila nickte bejahend.

Sie liessen die blühenden Terassengärten hinter sich und schraubten sich mit Hilfe der Thermik immer höher um dann Ostwärts abzudrehen. Anne genoss es mit Aquila zu fliegen. Das Gefühl von totaler Freiheit öffnete ihr das Herz und auf eine ganz spezielle Art fühlte sich mit der gesamten Welt verbunden. Anne dachte über ihr Leben nach und immer wieder fragte sie sich, ob es jemanden gab, der ihr Schicksal bestimmte. Gab es einen Gott, ihr Leben beeinflusste? Gab es dieses mystische Wesen, das die Menschen in ihrem Leben steuerte? Und plötzlich formulierte sie diese Frage an Aquila laut: „Gibt es Gott, Aquila?“

Er schüttelte den Kopf: „Nein Anne, es gibt keinen Gott. Auch keine Göttin. Zumindest nicht in der Art, wie die Menschen es sich vorstellen. Es gibt Verbindungen unter den Wesen metaphysischer Art. Es gibt Energien. Kräfte die für oder gegen das Leben wirken. Es gibt vieles zwischen Himmel und Erde, dass ihr Menschen euch nicht erklären könnt und für das ihr euch das Bild von einem allmächtigen Wesen macht, um sie zu verstehen. Es gibt andere Wesen, die nicht in den gleichen Dimensionen und Erscheinungsformen existieren, wie ihr. Aber auch sie sind keine Götter, sondern nur Bewohner anderer Orte. Ihr Menschen bestimmt euer Schicksal selbst. Ihr und eure Seelen seid miteinander und den anderen Wesen verbunden. Es gibt Kräfte, die ich Dir nicht genau erklären kann, die eure Handlungen beeinflussen, aber selbst diese Kräfte haben keinen eigenen Willen sondern werden durch euch selbst gesteuert und manifestiert. Du selbst, liebe Anne und alle anderen Wesen sind göttlich. Wir alle sind Gott!“

Anne war auf diese Antwort nicht gefasst, denn die Existenz eines Wesens, dem man die Schuld für alles Schwierige geben und bei dem man sich für alles Schöne bedanken konnte, war immer ein tröstlicher Gedanke für Anne. Und doch zweifelte sie oft genug an der Existenz Gottes. Zuvieles geschah auf der Erde, dass sie nicht mit ihrer Vorstellung eines übergeordneten Wesens verbinden konnte. Und gerade die Mitglieder religiöser Gruppen selbst riefen in ihr oft die grössten Zweifel hervor. Menschen die sich auf einen Gott der Liebe beriefen und in seinem Namen mordeten, unterdrückten, unsäglichen Hass verbreiteten und andere Menschen bekämpften. Menschen die ihren Kindern durch die Angst vor der Hölle Moral vermitteln wollten oder sie durch die Aussicht auf ewiges Leben in einem Paradies zu gutem Handeln ermuntern wollten waren ihr schon immer zutiefst suspekt. Ging es nicht darum aus sich selbst heraus respektvoll und lebensbejahend zu handeln? Sind Menschen nur fähig sich ethisch zu verhalten aus Angst vor dem Fegefeuer oder mit der Aussicht auf einen ewigen all inclusiv Urlaub im Hotel Paradies? Tief in ihrem Inneren wusste sie, das Aquila recht hatte. Es gab keinen Gott! Alles Gute dass sie in ihrem Leben tat, tat sie nicht aus Angst oder Eigensucht. Sie tat es, weil es ihr entsprach und sie es für richtig empfand. Und die Handlungen, mit welchen sie andere verletzte, diffamierte und quälte, tat sie ebenfalls nur aus sich selbst heraus und nicht, weil irgendein Teufel oder Dämon sie dazu verführte. Sie und nur sie selbst musste die Verantwortung übernehmen für alles was sie entschied und tat.

„Du hast recht Anne! Du selbst bist für dich und dein Leben verantwortlich. Du musst weder für das Positive jemand anderem danken, kannst aber auch das Negative niemand anderem in die Schuhe schieben.“ drangen Aquilas Worte in Annes Kopf. Anne löste sich wieder etwas aus den Gedanken und schaute sich um. Unter ihnen endete die grosse Wasserfläche des Atlantiks und sie erkannte die Küstenlinie Spaniens. Bald würden sie ihren Vater wiedersehen und das erfüllte Anne mit Freude. Aquila begann nun langsam immer tiefer zu fliegen und bald schon sah Anne die Gebäudekonturen ihrer alten Heimatstadt. Aquila steuerte in Richtung des Krankenhauses, auf dessen Dach er ein paar Minuten später landete. „Ich warte hier auf Dich!“ signalisierte er und Anne kletterte von seinem Rücken.

Die Korridore der Klinik umfingen Anne mit dem bekannten Geruch und einem hellen, künstlichen Licht. Nach ein paar Minuten stand Anne vor der Tür des Zimmers, in welchem ihr Vater bei ihrer Abreise gelegen hatte. Leise drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür. Sie trat ein und ging zum Bett ihres Vaters. Vorsichtig strich sie ihm zärtlich über das graue Haar und flüsterte ihm zu: „Hey Paps, ich bin da! Ich liebe Dich!“. Sie blickte in sein Gesicht und erwartete, dass er sogleich die Augen öffnen würde. Doch sie blieben geschlossen und gleichmässig senkte sich sein Oberkörper im Ryhtmus seines Atems. „Anne! Ich freue mich so dich zu sehen! Komm her und umarme mich!“ höre sie ihren Vater sagen. Doch die Stimme kam nicht aus der Richtung des Bettes. Sie blickte sich im Zimmer um und sah ihren Vater auf einem Stuhl in der Ecke sitzen. Er lächelte und breitete seine Arme aus. Anne stand auf und ging zu ihm hin, um ihn an sich zu drücken. „Paps, wie geht es Dir?“ fragte sie ihn. Er lächelte weiter: „Gut! Sehr gut sogar! Bald werde ich wieder erwachen und dieses Krankenhaus verlassen! Aber, ein paar Tage werde ich noch hier liegen, damit ich Dir zur Seite stehen kann.“

Sie erzählte ihm, was alles seit ihrem Abflug passierte und schloss damit, dass sie ihm von ihrer Unterhaltung über Gott mit Aquila berichtete. Ihr Vater hörte aufmerksam zu und verriet ihr, dass sie mit ihrer Frage und Aquilas Antwort auf eine  Wahrheit gestossen sei, die mit der geheimen Bibliothek in Verbindung stand. Er erkärte ihr, dass es einen jahrtausende alten Kampf zwischen freien denkenden  Menschen und Priestern gab, die durch das Ausüben und Aufrechterhalten von religiösen Systemen Macht ausübten. Jede Religion habe schlussendlich im Kern nur den Zweck, die Menschen die an sie glaubten zu manipulieren und zu steuern. Wissen sei Macht und da Religionen vermeintlich die wichtigsten Fragen der Menscheit zu beantworten schienen, übten sie so auch die grösste Macht auf Menschen aus. Man brauche nur die Geschichtsbücher zu lesen um zu erkennen, wie diese Macht seit jeher missbraucht wurde, um zu herrschen. Und dies sei bis heute der Fall. Nur allumfassendes, naturalistisches Wissen können diese Irrglauben jeglicher religiöser Prägungen brechen. Erst wenn alle Religionen der Welt entlarvt seinen, sei die Menschheit befreit. Und erst wenn die Menschen die volle Verantwortung über ihr Handeln übernehmen würden, gäbe es eine Aussicht auf Frieden und ein Leben, dass allen Menschen, egal wo sie leben würden, egal welche Hautfarbe sie hätten, egal welche Sprache sie sprechen würden in Würde leben liess.

Die geheime Bibliothek enthalte das gesamelte empirische Wissen der Menschheit der Antike. Zusammen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Neuzeit sei dieses Erbe dazu bestimmt, die Menschheit aus den grausamen Klauen der Religionen zu befreien. Aber die Menschheit sei noch nicht so weit. Es fehlten noch ein paar grundsätzliche Erkenntnisse, die so machtvoll seien, dass sie auch die grossen Mysterien erklären könnten. Die Menscheit stünde aber kurz davor mithilfe der Gentechnik und der Quantenphysik genau diese Wahrheiten zu entdecken. Erst dann sei der Zeitpunkt gekommen, das antike und das neue Wissen zu vereinigen um damit die friedliche Revolution zur Befreiung der Menscheit auszulösen. Aus diesem Grund sei es so immens wichtig, die Bibliothek zu schützen. Und selbst wenn sie sie finden sollten, wäre es ihre wichtigste Aufgabe, dies geheim zu halten und dafür zu sorgen, dass niemand vor der Zeit Zutritt zur Bibliothek habe, damit sie nicht von den Mächtigen dieser Welt zerstört oder missbraucht würde.

Anne hatte wortlos zugehört. Ihre Gedanken rasten durch ihren Kopf und sie war fast nicht in der Lage, all das gehörte zu verarbeiten und zu verstehen. Doch ihr Unterbewusstsein kannte diese Wahrheit bereits.

„Geh zurück und finde Raoul! Luis wird dir dabei helfen. Gemeinsam werdet ihr die Bibliothek finden!“ sagte ihr Vater und nahm Anne wieder in den Arm. Er drückte sie fest an sich und stolz flüsterte er ihr zu: „Du wirst es schaffen, da bin ich mir ganz sicher! Aber geh jetzt! Luis erwartet Dich!“. Anne löste sich und verliess das Zimmer sich noch einmal umblickend und ihrem Vater zuwinkend, um wieder auf das Dach der Klinik zu gelangen, wo Aquila bereits auf sie wartete. Sie kletterte auf seinen Rücken und sogleich hob er ab.

„Lass uns eine Runde über Sandras Haus drehen!“ sagte Anne und Aquila war einverstanden. „Vielleicht sehen wir sie!“ freute sich Anne  und tatsächlich stand Sandra im Garten und blickte in den Himmel um Anne zuzuwinken. Anne winkte zurück und eine Träne kullerte ihr dabei über die Wange, denn sie vermisste Sandra schmerzlich. „Wir müssen weiter!“ drangen Aquilas Worte in Annes Gedanken und sie nickte. Er drehte noch eine Runde über dem Haus um dann schnell wieder an Höhe zu gewinnen und in Richtung Westen weiter zu fliegen.

Sie wurde müde und legte ihren Kopf an Aquilas Hals. Langsam fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.

„Aufwachen! Wir sind da!“ Anne blinzelte und blickte aus dem Fenster von Pedros Wagen.

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Fragmente 1.22 – Flucht aus der Dunkelheit

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Original Photo von:  Jackson Lee

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Sie knieten neben dem leise atmenden Polizisten, dessen Blut aus der Platzwunde am Hinterkopf langsam auf den Boden des Lieferwagens rann. Draussen sprachen die anderen Beamten aufgeregt miteinander. Annes Verstand war aber viel zu sehr mit dem Mann, der vor ihr am Boden lag beschäftigt, als dass sie hätte verstehen können, was da besprochen wurde. „Ich muss ihm die Wunde verbinden, damit er nicht verblutet.“ flüsterte sie leise. Würde er sterben, würden sie zu Mördern und das war das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten. Anne kramte in ihrer Reisetasche und zog eine Reiseapotheke hinaus. Die wild durcheinander sprechenden Beamten vor der Tür des Transporters wurden plötzlich ruhig, als eine Stimme aus einem Funkgerät hörbar wurde. Doch Anne nahm das nicht zur Kenntniss. Sie goss Desinfektionsmittel auf die blutende Kopfwunde des Polizisten, der sich ohne wach zu werden wand und glucksende Laute von sich gab. Luis drückte einen weichen Schal aus seinem Rucksack auf dessen Mund, damit er sie nicht verriet.

Die Polizisten neben dem Lieferwagen zogen plötzlich ab und eine gespenstische Ruhe kehrte nun in der Tiefgarage ein. Anne presste eine sterile Kompresse auf die blutende Wunde und verband den Kopf des Verletzten. Sie legte ihm einen Druckverband an und hoffte, dass dies die Blutung stillen würde. Sie war voll konzentriert und hatte gar nicht mitbekommen, dass draussen vor ihrem Versteck Ruhe eingekehrt war und sie nun alleine waren. Das Klingeln von Luis Handy riss sie aus ihrer Konzentration. Pedro rief an und erklärte, wo sein Auto stünde und dass er mittlerweilen mit dem Gepäck dort angelangt sei.

„Wir müssen dafür sorgen, dass er in ein Krankenhaus kommt oder zumindest bald gefunden wird!“ sagte Anne zu Luis. Er nickte und schlug vor, den Verletzen in den Korridor zum Eingang der Tiefgarage zu legen, da er dort sicher bald gefunden würde. Anne willigte ein. Vorsichtig öffneten sie die Tür des Transporters und Luis streckte seinen Kopf hinaus. Es war niemand zu sehen. Die beiden stiegen aus und schleppten den schlaffen Körper des Mannes zum Eingang des Parkhauses. Die schmutzigen Leuchtstoffröhren der Tiefgarage tauchten die Szenerie in ein unheimliches Licht und plötzlich kam sich Anne total verlassen vor. Nein, sie war nicht alleine hier, sie hatte ja Luis gefunden. Aber die Tatsache als Verfolgte in einem fremden Land einen Polizisten niedergeschlagen und ernsthaft verletzt zu haben, gab ihr nicht eben ein gutes Gefühl. Luis schien ihre Gedanken zu erraten und sprach ihr Mut zu: „Du kannst nichts dafür, Anne! Du hast nichts verbrochen und hast Dich nur gewehrt! Wir haben uns gewehrt! Wir sind hier die Opfer, nicht die!“

„Los komm!“ drängte sie Luis, als sie den immer noch bewusstlosen Mann im Korridor abgelegt hatten. Sie beeilten sich wegzukommen und begaben sich zum Auto von Pedro, der bereits ungeduldig wartete. Nachdem das Handgepäck im Kofferraum des Autos verstaut war, stiegen sie zu Pedro ins Auto. Anne trug immer noch die Uniform einer Flugbereiterin und Luis sah in seinem Overall tatsächlich aus, wie ein Flughafenmitarbeiter.

Die Sonne empfing die drei mit brutaler Helligkeit, als sie den Schlund der Tiefgarage verliessen. Anne kam sich vor wie in einem billigen Roadmovie und fragte sich, ob das was hier geschah Wirklichkeit war oder ob sie einmal mehr plötzlich aus einem Traum erwachen würde. Doch es war grausame, staubige und kalte Realität. Pedro verlangsamte seinen Wagen. Bevor sie das Gelände verlassen konnten, mussten sie eine bewachte Schranke passieren. Luis wechselte ein paar Worte in Spanisch mit Pedro. „Keine Angst, er kennt die Sicherheitsbeamten hier. Sie werden uns sicher problemlos passieren lassen!“ versuchte Luis Anne zu beruhigen, die nun wieder sichtlich nervös wurde. „Blut!“ rief Luis plötzlich und zeigte auf Annes Jacke. Tatsächlich prangte ein grosser Blutflecken auf ihrem Oberteil, was sie beim Kontrollposten ganz sicher verraten würde. Schnell zog sie die Jacke aus. Zum Glück war ihre Bluse sauber geblieben.

Der Sicherheitsbeamte stoppte den Wagen und sprach aufgeregt mit Pedro. Anne schnappte auf, dass er Pedro von den beiden Ausländern erzählte, die fieberhaft gesucht wurden. Pedro lachte laut heraus und machte ein paar Bemerkungen über die lausige Arbeitsweise der Miliz und schloss damit, dass er dem Sicherheitsbeamten ein Kompliment für seine Aufmerksamkeit machte und anerkennend befand, dass die Securityguards des Flughafens da schon viel bessere Arbeit leisten würden. Der Beamte lachte zurück und fühlte sich offensichtlich geschmeichelt. Er winkte Pedro durch und öffnete die Schranke, während er den Dreien einen guten Tag wünschte.

Anne lies die Luft aus ihrern Lunge entweichen. Das ganze Gespräch über hatte sie den Atem angehalten, denn sie rechnete jeden Moment damit aufzufliegen. Doch Pedro hatte die Situation perfekt gemeistert. „Komplimente helfen immer!“ grinste er und fuhr Richtung Lima Stadt. „Ich bringe Euch zur Pension meiner Mutter!“ Sie wird euch für ein paar Tage unterbringen ohne Fragen zu stellen und ohne Euch an die Miliz zu verraten! Anne atmete erleichert auf und Luis versteinerte Miene löste sich langsam um einem müden Lächeln Platz zu machen. Anne schaute aus dem Fenster des Wagens und sah Häuser und Menschen an sich vorbei ziehen. Nun war sie endlich in Peru und eigentlich hatte sie damit gerechnet, vor Freude zu tanzen. Aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihr jeglichen Spass gründlich verdorben.

Ihre Gedanken schweiften ab nach Hause. Wie es wohl Sandra und ihrem Vater ginge? Plötzlich vermisste sie die Beiden schmerzlich und wünschte sich insgeheim wieder dahin zurück, wo alles angefangen hatte. Könnte sie nur das Rad der Zeit zurückdrehen, all diese Dinge ungeschehen machen und einfach wieder ihr ganz normales altes Leben leben! Ihr altes Leben? Langsam stiegen Bilder in ihr hoch. Die Beziehung mit Nick, die ihr jegliche Lebensfreude nahm, die unzähligen Bewerbungen, die fehlende Perspektive. Sie begann sich zu fragen, wer sie damals eigentlich war. Und irgendwie wollte ihr keine Antwort dazu in den Sinn kommen. Eigentlich, dachte sie, habe ich vorher gar nicht existiert. Anne erkannte, dass ihr altes Leben ein Gespinnst aus Kompromissen war und dass sie einfach  wie ein Roboter funktioniert hatte. Wäre sie nicht in dieses Abenteuer gestürzt, hätte sie Sandra nie so intensiv kennen gelernt, sie hätte ihren Vater nicht noch einmal von einer ganz neuen Seite erlebt, sie hätte nicht den Moment grosser Dankbarkeit nach dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit nach dem Unfall gefühlt. Sie hätte nicht in all den Momenten des Schreckens und der lebensbedrohlichen Erlebnissen gefühlt, dass sie tatsächlich am Leben war.

Leben! Dieses Wort erhielt nun eine ganz neue Bedeutung fernab von Sicherheit und Harmonie. Anne wurde bewusst, dass es die schmerzhaften Erfahrungen waren, die sie spüren liessen, dass sie nicht einfach eine Untote war, sondern dass sie wirklich existierte  und dass das nicht selbstverständlich war. Ihr wurde bewusst, wie wichtig es ist, den eigenen Weg zu gehen und darauf zu vertrauen, dass es besser war in Bewegung zu bleiben und dabei auch ein paar Blessuren und Gefahren zu risikieren. Ihr altes Leben war Stillstand, ein unsichtbares Dasein. Aber jetzt fühlte sie sich lebendiger als jemals zuvor,  obwohl sich eine bleierne Müdigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Sie konnte fühlen wie sie atmete, wie ihr Herz Blut durch ihren Organismus pumpte. Ihre Gedanken waren frei und just in diesem Augenblick eroberte erneut ein zufriedenes Lächeln ihr Gesicht. Ja, sie lebte! Und wie sie lebte! So weit weg von allem, das ihr Sicherheit gab und alles in geordneten Bahnen hielt, aber so nah bei sich selbst. Das erste Mal fühlte sie, was es wirklich bedeutete Anne zu sein. Und sie war glücklich damit, diese Anne sein zu dürfen, die all dies überstand und die trotzdem weiterging auf ihrem Weg.

Plötzlich war sie da! Die Freude, die sie erwartet hatte! Sie dachte an Raoul, an das Geheimnis der Biblothek und als sie Luis ansah, huschte auch über sein Gesicht ein müdes, tiefsinniges und ehrliches Lächeln.

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Fragmente 1.21 – Unerwartete Wendungen

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photocredit: Takashi Toyooka

Was bisher geschah:

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Anne blickte in die finster wirkenden Gesichter der bewaffneten Männer und überlegte fieberhaft wie sie aus dieser Situation entkommen konnten. Sie und Luis traten noch einen Schritt zurück und blickten sich nun gegenseitig an. „Was sollen wir tun?“ fragte Anne leise, doch Luis zückte nur mit den Schultern. Sie sah ihm an, dass auch er keinen Ausweg sah. Als ihr klar wurde, dass es diesmal kein Entrinnen gab, liess sie ihre Arme sinken und ergab sich ihrem Schicksal.

Plötzlich erklang hinter ihnen ein schnarrendes Geräusch. Eine Schiebetür öffnete sich und Anne spürte, wie eine kräftige Hand ihren Arm erfgriff und sie nach hinten zog. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass auch Luis nach hinten gezogen wurde. Mit aller Kraft riss Anne an ihrer Reisetasche, die mit ihrem Gewicht ihrer Rückwärtsbewegung zusätzlichen Schub gab und Anne stolperte rückwärts. Die Schiebetür schloss sich nur einige Zentimeter vor ihrem Gesicht. „Schnell! Folgt mir!“rief eine ihr unbekannte Stimme. „Hier entlang!“ der Mann zeigte nach rechts in einen Korridor der nach ein paar Metern an einer Treppe endete die nach unten führte. Ohne darüber nachzudenken packte Anne ihre Tasche, griff nach Luis Hand und die beiden spurteten zusammen mit dem Unbekannten los. Die paar Meter bis zur Treppe waren schnell überwunden und sie rannten hinunter.

Die Luft in diesem Kellerraum war ein paar Grad kühler und erleichterte ihnen das Atmen. „Schnell, schnell, hier hinein!“ rief der Mann, der sie aus der misslichen Lage oben bei der Gepäckabholung befreit hatte und öffnete eine unscheinbare Tür, die zu einem weiteren Korridor mit etlichen Eingängen zu anderen Räumen führte. Hastig rannten sie vorwärts, bis die Stimme des Retters wieder erklang: „Halt! Hier hinein!“. Doch Anne konnte keine Tür entdecken. Der Mann bückte sich und löste ein Lüftungsgitter aus der Wand. „Schnell, schnell!“ rief er und Anne warf erst ihre Tasche hinein um dann selbst durch die Öffnung zu klettern. Luis folgte ihr in dem er ihr erst seinen Rucksack durchreichte und dann selbst durch den Durchgang kletterte. Der Mann folgte ihnen und hebelte geschickt hinter sich das Metallgitter wieder in die Ausparung. „Psst! Seid ganz leise!“ flüsterte er und Anne und Luis wagten kaum zu atmen. Im Korridor aus dem sie geflüchtet waren erklangen nun die Schritte einiger Männer und das metallene klappern ihrer Waffen. Sie rannten durch den Korridor, an dem Gitter vorbei und nach ein paar Minuten schien der Spuk vorbei zu sein.

„¡Bienvenidos a Perú!“ flüsterte der unbekannte Retter und Luis begann leise zu lachen. „Pedro! Du bist ein Teufelskerl! Deine Rettung kam in letzter Sekunde!“. Pedro lachte leise zurück und die beiden Männer umarmten sich herzlich. „Pedro, das ist Anne, Anne das ist Pedro. Mein Freund, der hier am Flughafen arbeitet!“. Anne schüttelte Pedro die Hand. „Ich weiss nicht, was ich sagen soll! Danke!“ sagte sie und war sichtlich damit beschäftigt, die letzten Sekunden einzuordnen. „Wo sind wir hier?“ fragte sie. „Im Keller mit den Fundsachen und der nicht abgeholten Gepäckstücken.“ antwortete Pedro. Anne schaute sich um und fragte sich, ob sich auch ihr Koffer hier befand. Pedro errat ihre Gedanken und lächelte schelmisch. „Deinen Koffer wirst Du hier nicht finden Anne, der steht in meinem Büro, zusammen mit dem Gepäck von Luis“ triumphierte Pedro. Sie schaute ihn an und ihr Gehirn brauchte ein paar Sekunden um den Sinn seiner Worte zu verstehen. Doch dann lachte sie los und umarmte Pedro stürmisch. „Danke Pedro! Vielen Dank!“ rief Anne. „Psst! Nicht zu laut!“ raunte dieser und schaute zu dem Lüftungsgitter. Wieder erklangen die Geräusche von mehreren Männern, die nun in langsamerem Tempo in entgegengesetzter Richtung durch den Korridor schritten. Jede Tür zu den angrenzenden Räumen wurde aufgestossen um nach erfolgloser Suche wieder geschlossen zu werden.

„Wir können nicht hier bleiben!“ sagte Pedro „sicher werden sie den gesamten Flughafen durchsuchen. Früher oder später werden sie uns finden!“ Er erklärte Luis den Weg zur Tiefgarage für das Flughafenpersonal. „Ich hole Euer Gepäck und wir treffen uns dann dort in spätestens 15 Minuten.“ sagte Pedro. „Seid vorsichtig, dass ihr nicht doch erwischt werdet!“ „Aber, die werden uns doch sofort erkennen, wenn sie uns sehen!“ erwiederte Anne. Luis pflichtete Anne bei und war von der Idee nicht sonderlich begeistert. „Moment!“ nickte Pedro. Er ging in einen Nebenraum und kam mit einer Uniform einer Flugbegleiterin und einem Overall eines Reinigungsangestellten zurück.

Kurze Zeit später schlichen Anne und Luis einen unterirdischen Gang entlang. Ihre Körper standen unter Hochspannung. Jeder ihrer Schritte hinterliess ein Frösteln auf Annes Rücken und der Schweiss rann ihr in Bächen über den Körper. Sie mussten nur noch einen Korridor weiter, dann links durch eine Tür um in die Tiefgarage zu gelangen. Anne ging vorsichtig auf diesen Durchgang zu und erstarrte vor Schreck, als sich die Tür öffnete und eine Gruppe von 3 jungen Damen, in der gleichen Uniform die auch Anne trug, auf sie zukam. Anne versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und ging weiter. Auch die Nerven von Luis waren bis zum Zerreissen gespannt. Die drei Flugbegleiterinnen grüssten freundlich und Anne versuchte entspannt zu wirken und nickte mit einem erzwungenen Lächeln zurück. Nur noch ein paar Schritte, dann hatten sie Ihr Ziel erreicht.

Kaum hatten sie die Tür zur Tiefgarage geöffnet hörten sie hinter sich die Stimmen von Männern die sehr aufgeregt klangen. Offensichtlich waren nun einige Polizisten hinter ihnen und befragten gerade die drei Flugbegleiterinnen die ihnen vorher begegnet waren. Anne schnappte noch ein „No Señor, lo siento“ auf, als die kühle Luft der Garage sie umfing. Der Gestank von Diesel und Benzindämpfen vermischte sich mit dem Geschmack von Kerosin und Gummi. Anne rümpfte die Nase und zog Luis zu sich heran. „Wir sollten uns kurz hinter diesem Lieferwagen verstecken! Die Polizisten kommen sicher gleich in die Tiefgarage.“ Luis nickte und beide versteckten sich hinter einem dunklen Transporter. Keine Sekunde später flog die Tür auf. 5 Männer in Uniform durchschritten den Eingang, durch den auch Anne und Luis vorher kamen. Sie waren keine 10 Meter von ihnen entfernt und begannen nun mit ihrer Suche.

Anne und Luis hielten sich so still es nur irgendwie ging. Einer der Beamten kam immer näher auf sie zu, während die anderen sich verteilten und auf anderen Ebenen suchten. Der eine Polizist näherte sich nun dem Lieferwagen, hinter dem sich die beiden versteckt hielten und schaute durch das Seitenfenster in das innere des Wagens. Anne konnte seine Schritte hören und realisierte, dass er nun um den Wagen herumging. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, dann wurden sie entdeckt. Sie blickte sich zu Luis um und stellte mit Schrecken fest, dass dieser weg war. Er musste wohl vorne um die Front des Transporters geschlichen sein. Sie war alleine und verloren!

Anne stockte der Atem und es fühlte sich an als ob unsichtbare Hände ihr die Kehle zudrückten, als der Kopf des Polizisten hinter dem Lieferwagen erschien und sie anblickte. „¡hola ricura!“ grinste der Kerl schmierig und kam auf Anne zu. Sie war sich nicht sicher, ob er sie erkannt hatte oder ob er einfach die Situation ausnützen und einer vermeintlich eingeschüchterten Flugbegeiterin einen Schrecken einjagen wollte. „¿Que haces aquí mismo?“. Anne war sprachlos und brachte kein Wort hervor.  Sie blickte den Kerl ungläubig an während dieser Schritt um Schritt auf sie zukam. „!la mar de bonito!“ raunte dieser nun und stiess einen anerkennenden Pfiff aus. Er trat noch einen Schritt auf Anne zu und stand nun dicht vor ihr. Sie konnte den Alkohol in seinem Atem riechen und begann am ganzen Körper zu zittern. Der Mann beugte sich vor und berührte ihren Hals mit seiner Nase. Tief zog er die Luft ein und roch an Anne wie ein Raubtier, dass seine Beute beschnüffelte. „!bueno!“ raunte er und schaute Anne nun direkt in die Augen.

Anne war in höchster Alarmbereitschaft. Jeder Muskel war wie die Sehne eines Pfeilbogens, zum Abschuss bereit, gespannt. Sein Gesicht näherte sich Annes nun bis auf ein paar Milimeter, er spitzte seine Lippen und wollte Anne augenscheinlich küssen. Das war das Signal für sie. Ihre Sicherungen brannten durch! Ohne nachzudenken hob sie ihr Knie mit einer Wucht, die Knochen brechen würde, zwischen die Beine ihres Peinigers. Volltreffer! Er keuchte, klappte vornüber und streifte Annes Uniform. Eine übelriechende Spur aus Speichel und Schweiss hinterlassend schoss sein Kopf, Annes Oberkörper streifend, hinab. Anne nahm beide Hände und ballte sie zu einer einzigen grossen Faust und schlug mit aller Wucht in den Nacken des stinkenden Polizisten. Dieser taumelte nun zur Seite und schlug mit dem Kopf heftig an die Seite des Lieferwagens. „¡qué puta!“ Die Worte kamen leise, atemlos und gepresst aus seinem Mund und er warf Anne einen tödlichen Blick zu. Anne konnte gerade noch sehen, wie seine Hand zur Waffe griff, als ein dumpfer Knall die Augen des Polizisten leer werden liess. Seine Pupillen rollten nach oben und er fiel der Länge nach, nach vorne auf den Boden. Hinter ihm erblickte sie Luis mit einem runden, kurzen, blutbeschmierten Holzbalken in der Hand. „Luis! Du… “ Er fiel ihr ins Wort: „Schnell, wir müssen ihn verstecken!“

Anne rüttelte an der Tür des Lieferwagens. Er war nicht verschlossen. „Hilf mir! Raunte sie Luis zu. Wir verstecken ihn hier drin!“ Luis packte den Polizisten unter den Achseln, während Anne seine Beine nahm. Gemeinsam hievten sie den leblosen Körper in den Wagen. Plötzlich hörte Anne Stimmen. „Schnell, rein!“ flüsterte sie und stieg mit Luis in den Transporter zu dem bewusstlosen Polizisten. So leise es ging schlossen sie die Seitentür. Keine zwei Minuten später konnten sie die anderen bewaffneten Männer ganz in der Nähe des Wagens hören. „¡Sangre, aqui!” rief nun einer und die Polizisten versammelten sich neben dem Lieferwagen.

Anne und Luis erstarrten und hielten den Atem an.

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